KISARAGI STATION. Was klingt, wie ein japanischer Bahnhof ist auch einer. Zumindest, wenn man einer modernen japanischen Urban Legend um eine verschwundene junge Frau und eben diesen geheimnisvollen Bahnhof, den es eigentlich nicht geben dürfte, Glauben schenkt. Die jungen Herren, die sich davon inspirieren ließen, kommen jedoch mitnichten aus den Megacities Tokyo oder Osaka, sondern aus dem eher beschaulichen Darmstadt.
Musikalisch entpuppt sich „First Flame“ als wahre Wundertüte, die sich einen feuchten Dreck um musikalische Konventionen, kommerzielle Songstrukturen oder Genregrenzen kümmert. Wenn eine junge Band versucht möglichst viele Ideen in meist überlange Songs zu stecken, dann hat man nicht selten ein Flickenteppich an besseren und schlechteren Ideen, die einen Fluss vermissen lassen, der trotz progressivem Anspruch einen guten Song ausmacht. Und genau hier überraschen KISARAGI STATION auf ganzer Linie. In den einzelnen Songs passiert unheimlich viel und trotzdem gibt es diesen „Flow“ auch bei wahnwitzigen Übergängen, halsbrecherischen Tempowechseln oder dem Mix aus hartem, mit Growls unterlegtem Metalriffing und gänzlich fragilen Passagen. Alleine wie sich ein Song wie „King’s Gambit“ langsam aber unheilschwanger aufbaut, ist großes Kino. Auch verkommt die technische Komplexität nicht zum selbstdarstellerischen Show-Off, sondern gibt den Songs Tiefe, Anspruch und dem Hörer die Möglichkeit bei verschiedenen Hörgängen neues zu Entdecken. So ist beim ersten Durchgang ein Gitarrensolo im Fokus der Aufmerksamkeit, nur um bei zweiten Mal den virtuosen Basslauf darunter zu entdecken. KISARAGI STATION schaffen die unterschiedlichsten Einflüsse von SPOCK’S BEARD, über QUEEN, MAGELLAN oder auch DREAM THEATER und HAKEN mit 70ies Rock, Death Metal und manchmal auch Alternative Rock oder einem Hauch Fahrstuhlmusik zu kombinieren und daraus was wirklich Eigenständiges zu formen. Was -und das ist die große Kunst- bei allem verkopftem Anspruch auch einfach als tolle Musik funktioniert, in der man sich verlieren und sich treiben lassen kann.
KISARAGI STATION haben in meinen Ohren ein echtes Highlight aufgenommen, was entsprechend scheuklappenfreie Hörer härterer Sounds unbedingt anchecken sollten
Zehn Jahre nach ihrem legendären Debüt-Album servieren uns die schwedischen Stolper-Rhythmiker von VILDHJARTA einen neuen Langspieler. Ein Jahrzehnt Abstand zwischen zwei Alben sind natürlich völlig absurd und die Band konnte in dieser Zeit praktisch dem Aufstieg des mitbegründeten Genres zusehen, genauso wie dem Hype und seinem kometengleichen Verglühen. Und so kehren VILDHJARTA im Jahr 2021 in eine Metal-Welt zurück, in der der Begriff "Djent" in weiten Kreisen doch einigermaßen despektierlich verwendet wird: man unterstellt gerne Frickeleien ohne Sinn und Ziel und eine gewisse Selbstverliebtheit in die eigenen technischen Fähigkeiten. Spieltechnsich llegen VILDHJARTA auf "Masstaden under vatten" selbstverständlich auch auf unfassbar hohem Niveau. Gefühlt wechselt alle zehn Sekunden die Taktart, aber - und jetzt kommt ein großes ABER - die Schweden schaffen es auf wundersame Weise in diesem tonalen Durcheinander Atmosphäre zu kreieren und zwar nachhaltig. "Masstaden under vatten" bringt es auf eine stolze Spielzeit von über 80 Minuten, was im ersten Reflex als Nachteil gewertet werden könnte, jedoch liegt auch gerade darin die Stärke des Albums. Wenn man es schafft, mit den ersten Songs in die düstere Atmosphäre einzutauchen, belohnen einen VILDHJARTA mit einem spannungsgeladenen, dichten, in sich geschlossenen Werk. Kopfhörer auf, Augen zu und der Trip beginnt.
Das unterscheidet VILDHJARTA enorm von den trotz aller spielerischer Brillanz irgendwie immer Pantera-prollig daherkommenden MESHUGGAH und dürfte auch den ein oder anderen Prog-Metaller abholen, der mit der Djent-Szene ansonsten keine Berührungspunkte hat. Anspieltipps sind bei einem solchen Werk schwierig zu benennen, denn dieses Album sollte als Album gehört werden. Wer sich jedoch vorsichtig an die Band heranpirschen möchte, dem seien "den helige anden (under vatten)" und "brännmärkt" empfohlen.
Die britischen Prog-Rocker mit Alternative-Schlagseite beehren uns mit einem neuen Live-Album bzw. dem, was in Zeiten der Pandemie einem Live-Album am nächsten kommt - ein physiches Publikum war bei den Aufnahmen nämlich nicht zugegen. Trotzdem schafft es die Band um Mastermind Bruce Soord eine dichte Atmosphäre zu erzeugen. Genau darin lag und liegt die Stärke der Band, die leider hin und wieder mit dem Stempel “wenn du PORCUPINE TREE bei Wish bestellst” leben muss. Aber damit tut man dem Quartett nun wirklich massiv unrecht, auch wenn es Paralellen - nicht nur beim gemeinsamen Drummer Gavin Harrison - gibt. THE PINEAPPLE THIEF gehen im Gegensatz zu Steven Wilsons Brainchild deutlich songorientierter vor und dürften auch Menschen ansprechen, die sich sonst mit proggigen Klängen schwertun.
So finden sich auf “Nothing But The Truth” straighte Perlen wie “Someone Pull Me Out Of Here”, die von der ausdrucksstarken Stimme Soords und hervorragenden Backingvocals getragen werden. Gavin Harrison setzt hierbei mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten am Schlagzeug Akzente ohne den Song aus den Augen zu verlieren. Das ist die ganz große Kunst des Musizierens. Auch anspruchsvolleres Material wie der Siebenminüter “Our Mire” werden souverän und mit bewundernswerter Leichtigkeit vorgetragen.
Im Gegensatz zu den zwar stets sehr gut produzierten, aber doch sehr glatten Studiowerken erlebt man THE PINEAPPLE THIEF auf diesem Album eine ganze Ecke rauer und natürlicher. Selbstverständlich ist auch auf “Nothing But The Truth” der Sound perfekt ausbalanciert und wunderbar transparent, aber doch mit einer gewissen Kante, die der Band ganz hervorragend steht. Das wünsche ich mir auch für das kommende Studioalbum. Die Befürchtung "Nothing But The Truth" sei mit 17 Liedern und einer Spielzeit von mehr als 90 Minuten überladen, kontert das Hochbegabten-Kollektiv mit großer Spielfreude und greifbarer Lust am Zusammenspiel, so dass zu keiner Sekunde Langeweile aufkommt.
THE PINEAPPLE THIEF ist ein Live-Dokument ohne Schwächen gelungen, das auch als Einstieg in die Welt der Band exzellent taugt. Für Fans der Band ist das Album ohnehin ein Muss.
Ich kann trotz meines fortgeschrittenen Alters nicht behaupten ein RUSH-Fan von Anfang an gewesen zu sein. Beim erscheinen der ersten Alben Mitte der 70er liefen nämlich in meinen Kassettenrecorder noch Hörspielkassetten (Jüngere dürfen gerne mal googeln was das war). Aber mit den Alben „Signals“ (1982) und „Grace Under Pressure“ (1984) war es um mich geschehen. Was folgte war der sukzessive Erwerb des kompletten Backkataloges, inklusiver ihres siebten Albums – dem 1980 erschienenen „Permanent Waves“. Jenes Albums, welches den Übergang des kanadischen Dreigestirns von einer aufsteigenden 70er-Prog-Rock-Band und Kritiker-Lieblingen zu Superstars einleitete. Die Songs waren immer noch progressive Perlen – aber eingebettet in meist relativ kurze, knackige Songs (voller technischer Finessen und groovenden Rock), nachvollziehbar und eingängig. Alex Lifeson, Neil Peart und Geddy Lee experimentierten früh mit Synthies und Percussion-Spielereien. Es gibt immer was zu entdecken – und RUSH verstanden es meisterlich dies unaufdringlich einzubinden. Etwas, was viele Fans faszinierte - ein Markenzeichen des Trios, welches RUSH in den 80er perfektionieren sollten und sie vor allem in Nordamerika zu einer Stadien füllenden Band machte. Als Eckpunkte seien da mal der Hit des Albums „The Spirit Of Radio“ und die Prog-Perle „Natural Science“ genannt. Aber über RUSH noch viel zu schreiben ist an sich nicht nötig – es dürfte (sollte) kein Rockfan geben, der nicht das eine oder andere Album im Regal stehen hat.
„Permanent Waves – Fortieth Anniversary” wartete dabei nicht nur mit einem remasterten Sound der sechs Originalsongs auf (aus 2015), sondern auch mit einigen bisher unveröffentlichten Live-Tracks welche in 1980 auf der zum Album gehörenden Tour mitgeschnitten wurden. Die Aufnahmen kommen mit einer für ihr „Alter“ richtig guten Klangqualität daher – das Live-Feeling, die enthusiastischen Fans, das Können der Protagonisten war bereits damals herausragend. Das Teil gibt es noch in verschiedenen Special Editions – 2CDs+3LP Super Deluxe Edition, eine 3LP Deluxe Edition, die hier vorliegende 2CD Deluxe Edition und eine Deluxe Digital Edition. Auf der Webseite der Band finden sich noch weitere Optionen mit diversen Bekleidungsstücken. Alternative Cover und ausführliche Booklets verfeinern das Ganze dann noch.
2CD DELUXE EDITION – DISC 1
Original Album – Produced by Rush & Terry Brown / 2015 remaster (erstmals auf CD)
The Spirit Of Radio
Freewill
Jacob’s Ladder
Entre Nous
Different Strings
Natural Science
2CD DELUXE EDITION – DISC 2
Permanent Waves World Tour 1980 / unveröffentlicht
Da hatte ich schon gedacht bei den FLYING COLORS sei nach zwei tollen Alben („Flying Colors“ 2012 und „Second Nature“ 2014) und deren Live-Präsentation bis ins Jahr 2015 hinein Schluss – und darf mich jetzt (hoch erfreut) eines Besseren belehren lassen. Die immer noch schlagkräftige Starbesetzung - Casey McPherson (Gesang, Rhythmusgitarre), Neal Morse (Keyboards, Gesang), Steve Morse (Leadgitarre), Mike Portnoy (Schlagzeug, Percussion) und Dave LaRue (Bass) – liefern mit „Third Degree“ ein reifes, richtig gutes Drittwerk ab. Bereits der Opener „The Loss Inside“ präsentiert die Stärken der einzelnen Protagonisten in einem harten, melodischen Song der ungemein viel Raum für songdienliche Soloparts auf hohem Niveau lässt. Die folgende Singleauskopplung „More“ bedient dann mehr die Classic-Rock-Gemeinde, trotz dezenten Psychedelic-Einschlag. Mit dem gitarrenorientierten „Cadence“ und dem rythmischen „Guardian“ geht das grade so abwechslungsreich und voller Spielfreude analog zu den ersten Alben weiter, ehe es im weiteren Verlauf etwas gediegener, aber nicht weniger gelungen, weitergeht. Das ruhige, emotionale „You Are Not Alone“ zeigt was möglich ist, wenn zwei gute Sänger miteinander agieren. Das 11-minütige „Crawl“ birgt das Prog-Rock vom Feinsten. Ich mache es kurz – wer den FLYING COLORS bisher gewogen war darf sich voller Vorfreude auf Album Nummer 3 stürzen. Wer einfach gute Rockmusik mit Anspruch sucht; sowie perfekt gespielte und arrangierte Instrumentalpassagen ohne ausufernde Spielereien zu genießen weis liegt hier ebenfalls goldrichtig.
Man hat sich ja durchaus daran gewöhnt mit sogenannten „Supergroups“ und der dazugehörigen Label-Euphorie zugeschmissen zu werden. Die FLYING COLORS (noch mehr wie BLACK COUNTRY COMMUNION) bilden da eine Ausnahme. Zu organisch, zu gut passt das zusammen. Mit „Third Degree“ senden die FLYING COLORS nicht nur ein Lebenszeichen an die Community, sie präsentieren ein echtes Album zum reinliegen. Und eines das (auch dank der starken Vorgänger) Bock auf Live macht.
1. The Loss Inside
2. More
3. Cadence
4. Guardian
5. Last Train Home
6. Geronimo
7. You Are Not Alone
8. Love Letter
9. Crawl
Deluxe CD Bonus disc:
1. Waiting For The Sun (Unreleased Bonus Studio Track)
Vor 50 Jahren fasste sich der 24-jährige Frank Bornemann aus Hannover ein Herz und gründete unter dem Namen ELOY eine Band. Schon knapp 4 Jahre später, nämlich 1973 ergatterte er einen Plattenvertrag beim Major Label EMI. Danach ging es erfolgsmäßig immer weiter bergauf – und das trotz Gegenwind der heimischen Presse die ELOY auf Grund ihre Texte und ihrer englischen Performance belächelte und den Alben zum Teil gar Langeweile vorwarf. Anfangs noch immer in den Krautrock-Topf geworfen spielten ELOY Artrock, oft mit symphonischen Elemente und natürlich reichlich Synthesizer.
Die drei wohl besten Alben der Band, „Dawn“ (1976), „Ocean“ (1977) und „Silent Cries And Mighty Echoes“ (1979) gibt es nun zum 50-jährigen Bandjubiläum unter dem Titel „The Classic Years Trilogy“ als hochwertiges Box-Set. Die auf 2.000 Stück limitierte, durchnummerierte Box enthält neben den drei genannten Alben als 180 Gramm-Vinyl noch die Platten jeweils als eine CD. Die drei Platten gibt es jeweils in einem Klappcover, wobei die Texte der bisherigen Innenhüllen jetzt im Innencover mit zum Teil neuem Fotomaterial abgebildet wurden. Die CDs gibt es in einem daran angelehnten, speziellen Gatefold-Cover mit Statements der Musiker im Innencover. Die an sich schon guten Aufnahmen der Original-Alben wurden von Eroc frisch remastered und sorgen für ein authentisch-hochwertiges Klangerlebniss.
Zu den Alben braucht man der Zielgruppe – der Prog- und Artrock-Gemeinde – eher weniger zu sagen. Auf „Dawn“ von 1976 präsentierte Bornemann eine neue Besetzung (Bassist Klaus-Peter Matziol, Keyboarder Detlev Schmidtchen und Jürgen Rosenthal am Schlagzeug), welche dann auch die nächsten Alben einspielte. Ebenso wie das nachfolgende „Ocean“ (1977) sind beides Konzeptalben mit überlangen Tracks (auf „Dawn“ aber aufgeteilt), welche in verstärktem Maße sphärische Synthesizer einsetzen und immer wieder versuchen, was man dann besonders deutlich auch auf „Silent Cries And Mighty Echoes“ (1979) spürt, PINK FLOYD an atmosphärischen Bombast zu übertreffen. Das Frank Bornemann kein guter Sänger ist weis man; dass sein Akzent und seine Stimmlage ELOY mitprägte und dies nun mal einfach dazugehört sollte man auch akzeptieren. Der verbreitete Sprechgesang und der Einsatz von zusätzlichen Vokalistinnen sei dem wohl auch geschuldet. ELOY sind ein Stück deutsche Musikgeschichte - die „The Classic Years Trilogy“ ein würdiges Vermächtnis.
Dawn (1976)
1. Awakening
2. Between The Times
3. The Sun-Song
4. The Dance In Doubt And Fear
5. Lost!? (Introduction)
6. Lost?? (The Decision)
7. The Midnight-Fight / The Victory Of Mental Force
8. Gliding Into Light And Knowledge
9. Le Réveil Du Soleil / The Dawn
Ocean (1977)
1. Poseidon's Creation
2. Incarnation Of Logos
3. Decay Of Logos
4. Atlantis' Agony At June 5th, 8498, 13 p.m. Gregorian Earthtime
RPWL darf man schon als feste Größe des deutschen, ja europäischen Prog-Rock-bezeichnen. Die Mannen um Yogi Lang und Kalle Wallner haben aus den anfänglich nicht immer gut gemeinten PINK FLOYD-Vergleichen das Beste gemacht – und dürfen sich heute gerne als Verwahrer des FLOYDschen Erbes sehen. Mit „Tales From Outer Space” gehen RPWL mal wieder neue Wege und nehmen sich dem Science Fiction an.
In den Sieben wiedermal wunderschön komponierten, zum Teil überlangen Stücken bleiben sich RPWL aber durchaus treu. Zwar dürfen die Keyboards und die eine oder andere Passage spacig klingen und das Gefühl des weiten Raumes a la Star Treck und Raumschiff Orion vermitteln. Aber ansonsten setzt man auf Melodie, Atmosphäre, gefühlvolle Soli – auf die bekannte Melange aus 70er-Prog und Artrock. Die Fans der Band werden sich hier nach über 5 Jahren Abstinenz (das letzte Studioalbum „Wanted“ stammt aus 2014) aber absolut wiederfinden. Als Highlight (subjektiv gesehen) hat es mir dabei das 10-minütige „Light Of The World“ angetan – obwohl hier beim ganzen Song das Tempo kaum variiert wird, gestalten RPWL den Song abwechslungsreich - atmosphärische Keyboard und vor allem das wiederkehrende Gitarrenspiel lassen „Light Of The World“ als Neo-Prog-Perle erscheinen. Das direkt folgende „Not Our Place To Be“ mit seiner nicht mehr aus den Hirnwindungen gehenden Streicher-Affinität hat dann einen leichten 60er-Touch und dazu noch Ohrwurm-Lyrics …. toller Song. Wobei man ja bei RPWL an sich nicht von Qualitätsunterschieden bei den einzelnen Songs sprechen kann. Mit dem mainstream-lastigen, für Band-Verhältnisse fast schon popigen „What I Really Need“ hat man sogar einen Song fürs Radio mit an Bord. Alles in allem glänzt das Album durch gleichbleibend hohes Niveau auf kompletter Spiellänge. Ach ja - und mit dem schrägen Cover im 50er-Perry Rhodan-Stil beweisen RPWL das man „Tales From Outer Space“ trotz zum Teil ernsthaften, sozialkritischen Untertönen in einigen Texten mit einem Augenzwinkern betrachten darf.
Mit ihren letzten Album „The Astonishing“ hatten sich DREAM THEATER etwas übernommen. Darauf gibt es zwar durchaus einige erinnerungswürdige Passagen, in seiner Gesamtheit ist das wie eine Rock-Oper angelegte Mammutwerk aber doch zu aufgeblasen und erinnert stellenweise unangenehm an Disney-Soundtracks. „Distance Over Time“ scheint schon rein formell wie ein Gegenstück dazu: kein Konzept, kein aus mehreren Teilen bestehender Long-Track, einfach eine Sammlung neuer DREAM THEATER-Stücke. Und tatsächlich agiert die Band darauf wie befreit. John Petruccis Gitarrenspiel wirkte schon lange nicht mehr – vielleicht noch nie – so angriffslustig. Man höre sich dazu nur die schwer rockenden Riffs in „Fall Into The Light“, „S2N“ oder „At Wit's End“ an. Und dann Mike Mangini: Endlich tritt er aus dem Schatten von Mike Portnoy heraus, begnügt sich nicht mehr mit einer bloßen Kopie, sondern zeigt mit stellenweise genial unangepasstem, scheinbar verquerem Drumming, was er eigentlich drauf hat und leistet immer wieder Unglaubliches, so dass einem nur noch der Mund offensteht. Der irre Mittelteil von „S2N“ etwa ist nicht nur Gitarren-, sondern gleichzeitig auch Drum-Solo.
Überhaupt ist die Spielfreude der Band in jedem Stück zu spüren. Auf überlange Soli wird in den meisten Stücken verzichtet, stattdessen deuten die Musiker oft nur an, was sie eigentlich sonst noch können und geben der Songdienlichkeit den Vorzug. Dafür nehmen sie sich etwa mit Akustikgitarre oder Piano immer wieder auch Zeit für ruhige Momente. Dass sie tatsächlich viel Spaß bei den Aufnahmen gehabt haben müssen, hört man einem Stück wie „Room 137“ an, das mit BEATLES-Harmonien und einem Swing-Part überrascht.
Gut, vieles auf diesem Album meint man so oder ähnlich schon von dieser Band gehört zu haben. Aber Selbstreferenzen sind bei einer derartigen Diskographie im Rücken kaum zu vermeiden und sind teils sicher auch gewollt. Und wenn man ehrlich ist, muss man zugegeben, dass man eigentlich nicht genug bekommen kann von diesen groß angelegten Refrains und Petruccis Hook-Lines wie in „Fall Into The Light“ oder „Barstool Warrior“, die einfach immer wieder zum Niederknien sind. Mit „Out Of Reach“ gibt es dann zwar leider doch auch wieder eine verzichtbare Ballade zu hören, doch mit knapp über vier Minuten kommt man als Nicht-Anhänger der typischen DREAM THEATER-Schnulzen noch relativ glimpflich davon.
„Distance Over Time“ ist das stärkste DREAM THEATER-Album seit langem, zumindest seit dem Ende der Portnoy-Ära. Die gesamte Band spielt hier so zwingend, druckvoll und auf den Punkt, dass ihre Energie unmittelbar ansteckend wirkt. Lohnenswert sind übrigens die limitierte Digipack- sowie vor allem auch die Vinyl-Version, der das komplette Album zusätzlich als CD beiliegt. Denn mit „Viper King“ gibt es auf beiden einen Bonus-Track, der es in sich hat. So dreckig, rockig und bluesig hat man DREAM THEATER wohl nie gehört.
1997 als GORGASM gegründet (nicht zu verwechseln mit den gleichnamigen Krawallbrüdern aus Indiana, USA, deretwegen man sich im Übrigen einst umbenannte), ist die französische Truppe seit 2005 als GOROD unterwegs und hält ihre Hörerschaft auch auf "Æthra", ihrem inzwischen sechsten Langspielwerk, mit vertracktem Death Metal auf Trab. Ich muss gestehen, dass ich seit "Process Of A New Decline" von 2009 kein Album des Quintetts (von dem seit damals nur Gitarrist und Hauptsongwriter Mathieu Pascal sowie Bassist Benoit Claus, der seit diesem Jahr auch bei den Schwarzheimern THE GREAT OLD ONES lärmt, übrig geblieben sind) mehr gehört habe, aber an den Grundzutaten hat sich seitdem nicht viel geändert. Noch immer scheinen die Songs nicht im Proberaum, sondern am CAD-Rechner entstanden zu sein; die Kompositionen wirken sehr konstruiert, die Parts regelrecht aneinandergeklebt. Auch nach zehn Durchläufen gibt es auf "Æthra" keinen einzigen Song, der nachhaltig im Gedächtnis bleibt, und auch die pappige, furztrockene Produktion lässt alles Andere als Atmosphäre aufkommen. Bevor Ihr mich jedoch falsch versteht: Stücke wie "Bekhten´s Curse" oder "Chandra And The Maiden" (um die beiden vielleicht "eingängigsten" Nummern zu nennen) sind beileibe nicht schlecht, auf ihre eigene Weise sehr wahrscheinlich gut durchdacht, nur eben höllisch anstrengend, da GOROD es nach wie vor nicht hinbekommen, das extrem hohe technische Niveau auch für Nicht-Hightech-Musiker ansprechend zu verpacken - wohlgemerkt ein Problem vieler Bands dieses Genres. Wer sich allerdings zu den beinharten Anhängern solcher Kollegen wie SPAWN OF POSSESSION, THE FACELESS oder BEYOND CREATION zählt, liegt auch mit "Æthra" goldrichtig!
Anneke van Giersbergen ist ein alter Hase im internationalen Metal-Zirkus. Über 10 Jahre ist es nun her, dass sie ihren Job bei The Gathering an den Nagel gehängt und ihre Solokarriere gestartet hat, jetzt gibt sie einen Überblick über ihr bisheriges Schaffen – aber nicht etwa einfach in Form eines Best Of-Albums, sondern in völlig neu arrangiertem Gewand mit einem kompletten Orchester, aber ohne Band im Rücken. Das renommierte Residentie Orkest The Hague arbeitete hier für zwei Ausnahmekonzerte mit der Sängerin zusammen und gemeinsam haben die Musiker ein Werk erschaffen, das einen zeitlichen Bogen von The Gathering, The Gentle Storm und den Soloalben der Künstlerin bis hin zu Vuur schlägt. Die Songauswahl mag auf den ersten Blick eventuell für etwas Verwunderung sorgen: der Fokus liegt offensichtlich nicht auf einer Zusammenstellung der größten Hits (diverse Klassiker von The Gathering glänzen durch Abwesenheit), sondern auf der Eignung der Songs für ein Orchesterarrangement. Dies jedoch lässt die einzigartige Stimme der Sängerin voll zum Tragen kommen, und das funktioniert bei im Original ursprünglich rockigem Material wie „You Will Never Change“ genauso wie bei ruhigen Klängen wie dem bisher unveröffentlichten, niederländischen „Zo Lief“ oder der getragenen Henry Purcell Arie „When I Am Laid In Earth“. Fazit: Freunde symphonischer Klänge sind hier bestens bedient - und Fans von Anneke van Giersbergen sowieso.