Mit den Solo-Werken von Neal Morse habe ich mich ehrlich gesagt noch nie beschäftigt. Sein missionarischer Eifer, aufgrund dessen er ja auch bei SPOCK’S BEARD ausgestiegen ist, hat mich komplett von seinem weiteren musikalischen Werdegang abgeschreckt. Aber auch die SPOCK’S BEARD-Alben nach seinem Ausstieg haben mich aufgrund ihrer Tendenz zu immer geraderem, konventionellerem amerikanischem Rock nicht mehr besonders interessiert, so dass ich mich ausschließlich an die zwischen 1995 und 2002 erschienenen Alben gehalten habe. Live ist die Band zwar immer noch eine sichere Bank, aber die echten Höhepunkte ihrer Konzerte sind eben doch die Neal Morse-Songs; das sind die Momente, wo man wirklich Gänsehaut bekommt. Erst die TRANSATLANTIC-Reunion 2009 hat mir bewusst gemacht, dass es sich lohnen könnte, zu verfolgen, was Morse abseits seiner Gottesdienst-Touren eigentlich noch so treibt.
Als ich mir dann „Testimony 2“, den zweiten Teil des ersten Post-SPOCK’S BEARD-Albums „Testimony“ von 2003, zum ersten Mal angehört hatte, war mir klar: Es hat sich nicht nur gelohnt, sondern ich hätte wirklich etwas verpasst. Um es schon einmal vorwegzunehmen: „Testimony 2“ klingt mehr nach den alten SPOCK’S BEARD als deren Alben nach 2002, und zwar in einem Ausmaß, dass einem schon fast die Freudentränen kommen. Textlich gesehen muss man zwar ab und zu ein Auge bzw. Ohr zudrücken. Da gibt es dann eben auch mal Songzeilen wie „Jesus’ blood can make the vilest sinner clean“, „Jesus bring me home“ oder „The God of the whole universe / Sent his son to lift the curse / And live His holy life through me and you“. Der religiöse Anteil hält sich aber zum Glück in Grenzen: Vor allem erzählt Morse hier über die Zeit von der Gründung von SPOCK’S BEARD bis zu seinem Ausstieg, und das ist sogar stellenweise recht spannend.
Aber kommen wir lieber zur Musik. Die lässt einen nämlich wie bereits erwähnt im siebten Prog-Himmel schweben. Einen Überblick über die Songs zu bekommen, ist dabei zunächst schwierig: Auf der ersten CD sind Teil 6, 7 und 8 von „Testimony“ enthalten, die jeweils noch in einzelne Stücke unterteilt sind, auf CD 2 befinden sich zwei kürzere Songs sowie das 26-minütige „Seeds Of Gold“. Aber schon mit dem Opener und seinem gefühlvollen Klavier-Intro und dem anschließenden wunderbaren Thema hatte mich diese Scheibe. Und auch schon beim ersten Durchlauf bleibt man immer wieder an diesen ganz großen Themen hängen, die sich zugegebenermaßen manchmal nahe an Bombast und Kitsch befinden und einen doch immer wieder fast schon gegen den eigenen Willen mitreißen. Daneben gibt es ruhige, getragene Passagen zum Reinlegen und auch einige wilde Frickelparts, und zwischendurch wird auch immer mal wieder straight und bluesig gerockt. Alles da also. Die beiden ersten Songs der zweiten CD, „Absolute Beginner“ und „Supernatural“, fallen demgegenüber allerdings etwas an, bieten eher konventionelle Kost und klingen im Vergleich zum Rest des Albums ziemlich belanglos. Das abschließende epische „Seeds Of Gold“ entschädigt dafür aber großzügig, indem es noch einmal die besten SPOCK’S BEARD-Zutaten bündelt.
Auffällig ist, dass diverse Passagen schon fast als direkte SPOCK’S BEARD-Zitate durchgehen könnten. Zumindest in „Time Changer“ scheint das durchaus beabsichtigt zu sein: Dessen mehrstimmiger Gesang, schon von Anfang an ein Markenzeichen der Band, erinnert stark an Songs wie etwa die beiden Teile von „Thoughts“. Wobei „erinnern“ es hier wohl nicht trifft – tatsächlich IST das hier SPOCK’S BEARD-Gesang. Die Jungs sind nämlich zu Neal ins Studio gekommen und haben die Parts eingeträllert. Damit standen die alten SPOCK’S BEARD zum ersten Mal seit den Aufnahmen für „Snow“ wieder zusammen im Studio. Zur Seite standen Morse außerdem auch wieder seine langjährigen Studio-Gefährten Mike Portnoy und Randy George, so dass sich spielerisch alles auf höchstem Niveau befindet. Dazu sind einige weitere prominente Gäste mit an Bord, so etwa der Übergitarrist Steve Morse (der übrigens kein Bruder von Neal und Alan ist, dafür aber neben seiner eigenen Band schon bei den DIXIE DREGS und KANSAS spielte und bei DEEP PURPLE Joe Satriani ersetzte).
Kleine Abstriche gibt es wegen der Texte dann doch, denn Morse singt einfach etwas zu häufig „Jesus“. Ob man deshalb gleich sein komplettes Solowerk ablehnen möchte, sei jedem selbst überlassen. Ich jedenfalls habe mich durch „Testimony 2“ eines Besseren belehren lassen, höre an den schlimmen Textpassagen einfach weg und erfreue mich der großartigen Musik. Ist ja auch kein schlechter Mensch, der Neal Morse, er meint es ja nur gut mit uns. Und mit diesem Album hat er eindeutig bewiesen, dass er es musikalisch immer noch drauf hat.
Testimony 2
Band:
Genre:
Nicht angegeben
Tracks:
16
Länge:
115:14 ()
Label:
Vertrieb:
SYMPHONY X mit einer neuen Scheibe, darauf haben viele (Prog) Metalfans schon länger gewartet, da zähle ich mich gerne ebenfalls dazu. Das Teil schimpft sich „Iconoclast“, das Artwork ist dabei zienmlich klasse geworden und die Herren aus Flordia mit ihrem stimmgewaltigen Fronter Russell Allen haben konsequent den Weg des Vorgängers „Paradise Lost" aus 2007 fortgesetzt d.h. die Band ist noch deutlicher in den Power Metal Sektor vorgestoßen.
Die progressiven und stellenweise auch typisch symphonischen Elemente sind zwar schon noch da aber haben nicht mehr die Tragweite und sind deutlich zurückgeschraubt worden. Auch das Keyboard, früher ein mitunter recht tragender Part, hat bei weitem nicht mehr den vorderen Platz im Gesamtsound sondern ist deutlich zurückhaltender platziert. Die omnipräsenten mächtigen Gitarrenwände und Riffs dominieren ganz klar dieses Album, Flitzefinger und Saitenhexer Michael Romeo darf sich so wild solierend und frickelnd durchs Programm wühlen wie nie zuvor. Klar der Junge kann ja auch was aber mitunter ist mir das etwas zu übertrieben, zu selbstweihräucherisch und zu wenig songdienlich. Vor allem beim Opener und Titelsong ist dies eindeutig so der Fall, der Rest des Tracks wird schier erdrückt von dieser Power, der mittelmäßige Refrain kann kaum dagegen ankämpfen, Allen shoutet sich aber zumindest auf gleiche Höhe. Ja, der Gesang ist auch so eine Sache, wenn man so einen begnadeten Vocalisten an Bord hat ist mir absolut unverständlich, warum er meistens leider nur schreien und den Mister Aggressiv raushängen muß, ganz selten darf er auch mal richtig singen, sorry so ein zwar super Shouter ist mit für SYMPHONY X etwas zu dürftig.
Den ersten gesungen Part gibt es tatsächlich erst nach rund 15 Minuten im zweiten Song, dem recht gelungenen „The End Of Innocence“ auch hier wird die merkliche Steigerung des Härtegrades der Formation erneut deutlich, der typische Bombast, epische Breiten, fette Backing-Chöre tauchen zwar noch auf aber nicht mehr in dieser Konsequenz früherer Alben. Auch in Punkto Tempo geht es zügig in einem Fort durch, die Handbremse wird nur ganz selten angezogen, der Sound ist ähnlich rau wie der Gesang und fast schon thrashig geprägt, mitunter auch etwas sperrig. Es fehlt mir hier bei den Songs eindeutig an Seele & Tiefe will sagen die manchmal etwas pathetisch-tragenden Passagen mit hymnischen Melodien und viel Gefühl sind auf „Iconolast“ mit der Lupe zu suchen. „Dehumanized“ ist ein weiteres Beispiel solcher typischer Schrubbersongs, gegen Mitte des Song scheint er sich etwas zu melodischer zu öffnen aber der Schluss wird wieder durch dieses Wahnsinnsgitarrenkaskaden bzw. Achterbahnfahrten ziemlich geschrottet. Weitere High-Speed-Nummern wie „Bastards Of The Machine“ oder “Heretic“ sind ähnlich sorry langweilig aufgebaut. Vielfach wird ähnliche drauflos geprügelt, ab und an folgt ein leicht andere gezogener Part, die Stimme singt kurz normal und weiter geht das „Gebretter“ auf zugegeben sehr hohem Niveau aber sorry diese Schose ist mir viel zu gleichförmig. Diese mitunter zu aufgesetzte Power ermüdet auf Dauer. Dann endlich nach vielen Minuten kommt ein Song der voll überzeugt „Children of a faceless God“ bietet endlich mal ein etwas ausgewogeneres Verhältnis von allen Beteiligten, Allen singt sogar richtig viel mehr als dass er schreit, die Hookline ist klasse und (im Gegensatz zu den meisten Songs davor) nachhaltig und auch das Arrangement wirkt gut abgestimmt mit schönen Wechseln ohne ständig mit der Gitarrenkeule zu winken. Das Titelthema rund um das ganze Album "Mensch und Maschine“ wird bei dem ebenfalls nur durchschnittlichen „Electric Messiah" wieder aufgegriffen. Bei "Prometheus (I Am Alive)" geht es etwas progressiver mit vielen Breaks sowie relativ dreckigeren Gesang zu, erneut sind viele treibende Gitarrenläufen und ein abgefahrenes Solo zu hören.
Dann ganz zum Schluss packen SYMPHONY X doch tatsächlich noch etwas zum durchatmen aus, eine etwas getragen mit schönem Piano startende Nummer „When All is Lost“, die dann zwar etwas straighter wird aber nicht durch massig metallische Riffs zugekleistert wird sondern einen wunderbar melodischen Verlauf bietet und ja es wird auch klar gesungen ohne Shouts, der zuvor überstrapazierte Härtegrad fällt hier völlig Flach. Das perlige Keyboard wechselweise mit klasse Hammondsounds agiert bestens zu sehr variablen Gitarren und der Song hat wirklich Seele, Ausdruck und Abwechslungsreichtum etwas was dem Material auf sechzig Minuten zuvor zu 80% völlig abgeht.
Warum nur will man nur zuvor anscheinend voll bewußt partout diese deutlich homogenere und sehr viel nachhaltigere Musik nicht spielen? Die Band setzt halt lieber auf volle Kanne Powerriffing, ein etwas unterkühlte Grundstimmung, zwar mit vielen technischen Kabinettstückchen aber selten steht der Song als solches im Vordergrund will sagen er trägt die Musik nicht. „Iconoclast“ bietet insgesamt leider nur mit etwas Progsprengseln aufgemotzten sehr oberflächlichen Power Metal der härteren Art - vom bombastischen Metal mit tiefgreifenden Melodien und üppigen Arrangements, die auch hinterher noch hängen bleiben ist hier (fast) nichts mehr zu finden. Wer also auf härter, schneller, lauter abfährt wird hier sicher glücklich werden. Gutklassiger Prog Metal kling für mich jedenfalls völlig anderst und das „Album des Jahres“ in diesem Genre haben (auch wenn es das Label gerne so hätte) ganz sicher nicht SYMPHONY X abgeliefert.
Iconoclast
Band:
Genre:
Nicht angegeben
Tracks:
9
Länge:
62:54 ()
Label:
Vertrieb:
Bereits das wirklich klasse Artwork von PENDRAGON’s neuer Scheibe „Passion“ schürt optisch relativ starke Erwartungen an den musikalischen Inhalt. Und tatsächlich, dass Ergebnis nach einigen Durchläufen ist überzeugend. Beim letzten Werk der britischen (Neo)Proger „Pure“ (2009) attestierte Kollege Hardy den Herren um Mastermind Nick Barett den Aufbruch zu neuen Ufern. Die Band wollte damals einfach deutlich weg von eher traditionellen Wegen, agierte sehr sehr viel riffiger, war deutlich härter unterwegs, es gab weniger „niedlich-zuckrige“ Melodien und keine (wie früher häufig zu hören) eindimensional, klebrige Keyboardteppiche.
Auch auf diesem aktuellen Werk „Passion“ wird diese Ausrichtung weiter konsequent fortgesetzt, vielleicht einen Tick weniger drastisch. Egal, ob man jetzt die beim Vorgänger anschienend verprellten Alt-Fans wieder einsammlen will oder nicht, die Band hat sich ihre Identität mit einem geschickten Mix auch mit bekannten Trademarks bewahrt. Trotzdem ist die Musik deutlich moderner geprägt, mit starken stilistischen Breaks, die Stimmungen sind mitunter recht düster aber auch variantenreicher, die Riffs immer noch ungewohnt fett, mitunter klingen PENDRAGON sogar bewußt ein wenig schräg bzw. spröde. Die Hinführung mit dem etwas hektisch startenden dann sehr treibenden Titelsong gelingt bestens, der Song geht perfekt über in das recht dunkle „Empahty“ mit zunächst stampfenden Heavyriffs, ein Anflug von dumpfen Growls und sogar Rap-bzw. Sprechgesangparts aber mit wunderbar hymnischen Refrain, ein echt geiler betonter pumpender Bass sorgt für eine passende Hintergrundbeschallung. Hinten raus wird es etwas psychedelischer in Sachen Gitarren und dann werden die gewohnt, floydig-elegischen Lick-Teppiche von Mastermind Nick Barrett im bekannten Bombbastsound wieder ausgefahren, klasse gemacht. Solche monumentalen Longtracks gibt es gleich zwei, aus recht verschieden klingenden Parts zusammengesetzt, die aber mittels gelungener Brücken meist gelungenen zu einem stimmigen Ganzen verwoben sind. Hierbei setzen die Briten natürlich gerne ihre gewohnt breit angelegten instrumentalen Gitarrenlinien und die weitläufigen Keyboardpassagen von Clive Nolan ein.
Die Zeiten des wohlig-sonnigen Neo-Weichspühl-Progs scheinen trotzdem vorbei zu sein, geboten wird von diesen auch schon älteren Herren trot allem (auch wenn manche dies vielleicht anderst sehen) eine glaubwürdige Darstellung und „Verjüngung“ von PENDRAGON Anno 2011. Sachen wie das mitunter relativ einfache, aber gut nach vorne abgehende „Feeding Frenzy“ wären früher unvorstellbar gewesen. Die Band klingt trotzdem immer noch nach sich selbst. So wie auch bei „This Green And Pleasant Land", da starten die alten PENDRAGON in Verbindung mit einem sehr popig-weitläufigen Refrain durch, dass hat schon was von 30 SECONDS TO MARS. Nach acht Minuten Melodieseeligkeit bricht der Song ab und geht über in einen schnellen Inmstrumentalpart mit RUSH-artgien Gitarrenparts sowie tollen sehr coolen Drumparts. Zum Schluss zeigt uns Tastenmann Nolan was er noch für alles an skurillen Samples in seiner Kiste hat, da läßt er es neben viel Sumpfgeplupper tatsächlich Jodeln… sehr gewöhnungsbedürftig. Nach dem fünften Durchgang kann man es sogar hören. Auch "Skara Brae" beginnt wieder recht modern mit relativ „harten“ Klängen, stampfende Rhythmik, Doublebass-Parts, eine melancholische-düstere Stimmung mit total schrägem Keyboard wird erzeugt - trotzdem geht alles sehr gekonnt zusammen mit guten Melodiezügen und zum Ende klingt es fast fröhlich und man läßt es entspannt auslaufen. Da kommen dann wieder die „alten“ PENDRAGON durch, wie auch bei der relaxten Schlussnummer „Your Black Heart“, dass sehr ruhig fast nur mit Pianoklängen getragen wird und dann mit den typischen singenden Gitarren ein wirklich gutes Album beendet.
Für mich haben sich PENDRAGON absolut gekonnt neu erfunden, haben musikalisch in der Progszene etwas zu sagen. „Passion“ überzeugt sprichwörtlich und ist kein lascher Aufguss von altem Wein in neuen Schläuchen (wie bei so vielen anderen Bands) sondern ist als musikalisches Gesamtwerk stimmig und gut gelungen.
Die Deluxeausgabe kommt per schickem Digibook mit einer beiliegenden DVD daher, die u.a. eine Dokumentation zur Entstehung des Albums bietet. Der Unterhaltungsfaktor ist relativ dürftig, zuviel Geplapper und zu wenig Musik mit einem 20-minütigen "Making Passion - A Handycam Progumentary". Es gibt noch andere kurze Sequenzen der Band auf Tour, unter anderem auch in deutschen Locations, von den Aufnahmearbeiten im Studio und vor allem (etwas zuviel) meist von Gitarrist Barrett in seinem Zuhause, so um die Weihnachtszeit aufgenommen, wobei er lang und breit erklärt wie er seine Songs schreibt – hätte man sich aber schenken können.
Passion
Band:
Genre:
Nicht angegeben
Tracks:
7
Länge:
54:58 ()
Label:
Vertrieb:
InterviewIhr habt gerade eine US-Tour hinter euch. Wie ist es gelaufen?
Es ist wirklich großartig gelaufen! Wir waren schon eine ganze Weile nicht mehr an der Westküste, deshalb haben viele Leute darauf gewartet, dass wir wieder mal dorthin kommen. Wir haben auf dieser Tour auch auf dem Ink-N-Iron-Festival gespielt, das war fantastisch. Wir haben mit den BUZZCOCKS bei der Queen Mary gespielt, und wir haben sogar auf dem Schiff übernachtet. Das Beste aber war, dass wir die Verbindung zu unseren Fans wieder hergestellt haben. Unsere Fans sind bei uns geblieben, und unsere Fanbase wächst immer noch weiter. Es ist großartig, auf den Shows neue TURBO A.C.’s-Tattoos zu sehen. Mit dem neuen Album hat sich hier für uns noch einmal einiges getan. Während wir auf Tour waren, wurden wir gefragt, ob wir mit dem DROPKICK MURPHYS auf Tour gehen würden, und wir freuen uns schon darauf.
Warum hat es fünf Jahre gedauert, bis euer neues Album erschienen ist?
Ich glaube, dass diese Pause nötig war. Wir sind schon so lange so heftig und stetig unterwegs, dass ich schon glaubte, ich würde anfangen, verrückt zu werden. Meine Jungs haben mir erzählt, dass ich eines Morgens auf der Tour fehlte, und sie mussten herumfahren und mich suchen. Sie haben mich ohne T-Shirt in einem Park gefunden… dabei war es November! Ich weiß nichts darüber, ich erinnere mich nicht, aber offensichtlich hat das alles angefangen, mich runterzuziehen. Dann habe ich auch noch die Möglichkeit erhalten, mit einem alten Freund, Jesse Malin, ein Geschäft aufzumachen. Ihm gehört eine Bar hier in New York City, und er fragte mich, ob ich sein Partner bei der Eröffnung einer Pizzeria neben der Bar sein wolle. Also haben wir einen coolen, kleinen Punk-Rock-Pizza-Laden aufgemacht, mit von Arturo Vega (der u. a. das berühmte RAMONES-Logo gestaltet hat – Anm. d. Red.) designten Pizza-Boxen. Wir haben coole Musik gespielt, und coole Kids haben dort gearbeitet. Es war toll, aber die Miete war sehr hoch, und es gab Probleme damit, die Lizenz zum Verkauf von hartem Alkohol von der Bar auf den Pizza-Laden zu übertragen, daher haben wir zu wenig Geld eingenommen. Nach zwei Jahren machte uns jemand mit Tonnen von Geld ein Angebot für den Laden, und ich entschied, dass es das Beste wäre, den Laden zu verkaufen und wieder mit der Band an die Arbeit zu gehen. Um ehrlich zu sein, hat mich diese Erfahrung ziemlich fertig gemacht, ausgelaugt und geschwächt. Ich habe eine Weile gebraucht, um meine Stärke wiederzuerlangen, aber in dieser Zeit habe ich den Großteil des Materials für „Kill Everyone“ geschrieben.
Hast du dich in dieser Zeit verändert, und hat das auch eure Musik beeinflusst?
Na ja, vielleicht war ich in dieser Zeit noch fertiger als normalerweise, vielleicht war ich wütend, feindselig und gewalttätig… ich bin mir nicht sicher. Ich meine… TURBO A.C.’s-Songs sind immer ein bisschen wütend, feindselig und gewalttätig… aber gleichzeitig wollen wir aufbauend und positiv sein. Also, ich weiß wirklich nicht.
Es gibt euch jetzt 15 Jahre. Ist es während dieser Zeit einfacher oder schwieriger geworden, neue Songs zu schreiben?
Einfacher… ich weiß nicht… aber auf jeden Fall spüre ich, dass die Songs besser werden.
Wie hast du die Songs für „Kill Everyone” geschrieben?
Die meisten Songs sind auf Akustikgitarre geschrieben worden, von mir alleine oder zusammen mit Tim. Und natürlich nehme ich laufend Riffs auf, die mir in den Sinn kommen. Das zusammengenommen ist die Basis des Albums. Tim trägt auch immer eine Menge bei, und wir haben stundenlang mit unseren Gitarren zusammengesessen und einen Song nach dem anderen gemacht. Während der ganzen Jahre hatte ich die Ehre, mit einigen großartigen Produzenten zusammenzuarbeiten, und eine Sache, die ich von ihnen gelernt habe, ist: Wenn dein Song nicht mit nur einer Akustikgitarre und deiner Stimme funktioniert, dann ist es kein Song.
Seit „Live To Win” habt ihr einen zweiten Gitarristen. Beeinflusst das euer Songwriting?
Ja, Jer hat nach und nach eine immer größere Präsenz bekommen. Jetzt füllt er nicht mehr nur auf den Aufnahmen den Sound aus, sondern seine Parts leben wirklich.
Auf „Kill Everyone“ gibt es – für eure Verhältnisse – ziemlich viele Songs in langsamem oder Mid-Tempo. Wie ist es dazu gekommen?
Als ich angefangen habe, für das Album zu schreiben, hatte ich eigentlich geplant, ein Doppelalbum zu machen. Ein Album sollte alle langsamen, leichten, surfigen Songs enthalten und das andere heftigen TURBO A.C.’s-Speedpunk. Die Idee wurde aber von den Labels, mit denen wir im Gespräch waren, abgelehnt, na ja, vielleicht nicht völlig abgelehnt, aber ich merkte, dass sie nicht glücklich darüber waren. Dann habe ich „Kill Everyone“ geschrieben und habe komplett meine Meinung geändert. Ich glaube, ich habe noch nie eine stärkere Vision verspürt, also war der Weg bereitet, und alles andere hat sich einfach so ergeben. Das ist der Grund, warum so viele langsamere Songs auf diesem Album sind. Das Coole dabei ist, dass wir jetzt ein komplettes Album mit zusätzlichen, nicht verwendeten Songideen im Regal stehen haben.
Wenn man „Take Me Home” akustisch spielen würde, könnte es auch ein Country-Song sein, und in „You’re So Stupid” habt ihr eine akustische Gitarre für die Strophe verwendet. Hat euch Country beeinflusst, als ihr die Songs geschrieben habt?
Ich liebe Country, oder ich sollte besser sagen: „richtigen“ Country. Und ja, wir sind von Country beeinflusst. Wenn wir mal ein Bier zusammen trinken sollten, werde ich eine Gitarre mitbringen, und ich werde dir jeden Song vorspielen, den Hank Williams jemals geschrieben hat.
Ich finde, der Sound on „Live To Win” war etwas undifferenziert und hat weniger gekickt als auf euren Alben davor, aber auf „Kill Everyone“ habt ihr wieder den alten energiegeladenen Sound. Was hast du bei der Produktion dieses Mal anders gemacht?
Hmmm, ich weiß auch nicht, aber ich bin froh, dass es funktioniert hat. Bei „Live To Win“ gab es ja einen großen Wechsel im Line-up, und vielleicht hatte sich das alles noch nicht gesetzt. Ich mag das Album aber immer noch, und ich frage mich immer noch, wie ich das gemacht habe. Ich finde, dass es von den Texten her mit zum Besten gehört, was ich je gemacht habe.
Trotz der zwei Gitarren hört man den Bass – erfreulicherweise – durchgehend sehr gut. War es schwierig, ihn in den Vordergrund zu bringen?
Ähm ja, Bass ist schwierig. Wir haben drei Tage damit verbracht, den Bass zu testen, um den richtigen Sound zu bekommen. Ich erinnere mich daran, dass ich eines Morgens aufwachte und hörte, wie Dampf aus der Heizung entweicht... aber das Ding ist: Ich habe keine Dampfheizung! Durch all den Bass hatte ich einen akuten Tinnitus. Glücklicherweise war er nur temporär. Eigentlich habe ich echt Glück, nach all den Jahren ist mein Gehör immer noch wirklich gut.
Für mich waren die TURBO A.C.'s immer eine Band, die – besonders live – Spaß und Positives transportiert. Was steckt hinter dem negativen Albumtitel?
Das ist es gerade... das ist gar kein negativer Titel! Gewalttätig und mörderisch, ja, aber negativ, nein... das Album ist dazu gedacht, all uns Außenseiter zu vereinen. Ein Teil dessen, warum ich Punk entdeckt habe, war, dass ich mich ausgegrenzt und durch den Mainstream abgedrängt fühlte. Das ist es also, worum es geht: Scheiß auf den Mainstream! Wir sind die ungewollten Kinder der Gesellschaft, aber das Gute dabei ist: Wir brauchen die alle nicht! Wir haben etwas Besseres, wir haben diese Musik, wir haben uns und den Mut, zu tun, was immer wir gerade verdammt noch mal wollen! Ich glaube, dass wir uns alle hin und wieder so fühlen, als würden wir alle umbringen wollen... oder vielleicht bin ich auch einfach nur verrückt.
Woher nimmst du die Ideen für deine Songtexte?
Ha ha... machst du Witze? Ich kann euch doch nicht alle meine Geheimnisse verraten.
Der Chorus von „Take Me Home” beginnt mit der Zeile „Oh Lord, take me home”. Bist du religiös?
Ich mag Religionen. Ich finde, der ganze Kram ist faszinierend. Ich bin nicht in dem Sinne religiös, dass ich einer Kirche folge, aber ich beschäftige mich mit Religion, und die Philosophien und die Messages dahinter überwältigen mich. „Take Me Home” ist mein Tribut an Gospel, und der Text gehört mit zu dem besten Kram, den ich je geschrieben habe.
Eure letzten Alben sind bei Bitzcore erschienen, wohingegen „Kill Everyone” auf Concrete Jungle veröffentlicht wurde. Warum habt ihr das Label gewechselt?
Tja, Bitzore hatte so seine Probleme, aber trotzdem stehen wir noch in einem guten Verhältnis zueinander, und wir brauchten einen Teil der Bitzcore-Familie, um das Album anderswo unterzubringen. Concrete Jungle ist der perfekte Ort für uns, und wir fühlen uns gut damit. Wir haben mit den Leuten bei Concrete Jungle gesprochen, und dabei haben wir erfahren, dass sie Fans von uns sind und seit unseren Anfängen zu unseren Konzerten gehen. Das war die Art von Label, mit dem ich arbeiten wollte.
Im Herbst werdet ihr in Europa auf Tour sein, und den Großteil eurer Konzerte werdet ihr in Deutschland spielen. Was ist eure Verbindung zu Deutschland?
In Deutschland hatten wir schon vom ersten Album an einen wirklich guten Start, und seitdem haben wir dort viel Zeit verbracht. Was mich immer wieder erstaunt, ist, dass die deutschen Zuhörer mehr auf den Inhalt der Texte achten als diejenigen in den USA. Es ist sehr beeindruckend, dass die Leute die Texte verstehen und sie ihnen gefallen. Bezüglich weiterer Verbindungen: Es scheint, dass das deutsche Publikum weiß, wie man richtig feiert und rockt... da passen wir natürlich perfekt dazu!
Danke für deine Zeit!
Hey, ich danke dir. Und ich hoffe, ich sehe euch alle auf der Tour!
STEVE HACKETT gehört seit Jahrzehnten ganz sicher zu den weltbesten Prog-Gitarristen der Szene. Diese Erkenntnis ist an sich nicht wirklich Neues, nur wenn man sich den aktuellen Output „Live Rails“ so anhört, muß man diese Schlussfolgerung zwangsläufig erneut ziehen. Dieser Musiker scheint ein schier unerschöpfliches kreatives Potential sowie Stilvariationen zu besitzen, davon zeugen auch wieder diese beiden üppigen Silberlinge.
Diesmal zeigt sich Meister Hackett wieder deutlich mehr Prog-Rock orientiert - will sagen nachdem er sich auf den beiden Scheiben „Wild Orchids“ (2006) und „Metamorpheus“ (2005) eher dem etwas ruhigeren, verspielten Art Rock beziehungsweise eher betont klassischen Elementen widmete, war das Vorgängerwerk „Out Of The Tunnel’s Mouth“ (2009) doch schon deutlich mehr an die alten Prog-Rock-Zeiten als GENESIS-Gitarrist angelehnt. Diese Entwicklung wird daher auch auf diesem Doppel-Livealbum „Live Rails“ deutlich Rechnung getragen. Im Vordergrund steht zunächst die erwähnte recht abwechslungsreiche Scheibe „Out Of The Tunnel’s Mouth“, hier sind sechs von acht Songs vertreten aber bei der Vergangenheit darf natürlich auch altes Material von den glorreichen GENESIS-Tagen nicht fehlen.
Überhaupt war der Gitarrist schon immer recht fleißig, was Alben anbetrifft neben den 14 GENESIS-Veröffentlichungen (sowohl mit PETER GABRIEL als auch mit PHIL COLLINS am Mikrophon) hat er seit 1970 sage und schreibe 22 Solowerke unter Volk gebracht die über Jazz, Weltmusik, Blues, Folk, Artrock und Klassikanleihen sehr viele unterschiedliche Facetten aufweisen.
Jetzt also Livealbum Nummero 12 des mittlerweile 61-jährigen Briten - genügend Stoff ist wieder zusammen gekommen, er und seine wirklich tolle fünfköpfige Begleitband machen dabei einen tollen Job. Die Produktion ist typisch klar gehalten, eine echte Liveatmosphäre kommt eher selten durch, die Fans sind nur ab und an schon deutlich zu hören wobei die Songs von verschiedenen Konzerten der letzten Tour zusammengeschnitten wurden. Ist jetzt aber nicht negativ zu werden, denn mit seiner Truppe um u.a. Drummer Gary O'Toole, Keyboarder Roger King, Bassist Nick Beggs oder dem Saxophon-und Percussionspezialisten Rob Townsend wird knapp zwei Stunden lang ein wahres Progfeuerwerk an Spielfreude sowie auch vielfach sehr atmosphärische Rockmusik geboten.
Die erste CD startet mit einem tollen orientalischen Intro dann folgt „Every Day“ das typisch neoprogig wie zu besten IQ-Zeiten daherkommt, der Song stammt aus dem
1979er Werk „Spectral Mornings“, dieser ebenfalls recht gelungene Titelsong befindet sich dann auf Seite zwei zum Start. Insgesamt sind mir aber auf dem ersten Teil einige zu langatmige Sachen drauf, da passiert etwas zu wenig, relativ ruhig wie u.a. „Fire On the Moon“ oder auch „Emrald and Ash“ hier wird erst nach 5 Minuten der richtige Proghammer ausgepackt. Bei „Ace Of Wands“ überteibt man es etwas mit den katzenmusik-schrägen Instrumentalparts. Dafür sind „Serpentine“ u.a. mit einem klasse Saxophonsolo sowie das gut abgehende „Tubehead“ als tolle Improvisationsnummer absolute Pluspunkte.
Die zweite Scheibe kommt für meine Empfinden natürlich deutlich stärker rüber (auch weil man die Songs halt schon ewig kennt), denn hier werden eine ganze Reihe reinrassiger GENESIS-Klassiker wie natürlich das genialen "Firth Of Fifth" (aus „Selling England By The Pound“) in teilweise etwas überarbeiteten Versionen gespielt. Völlig entstaubt, mit teilweise neuer Dynamik und auch moderner klingen Sachen wie "Fly On A Windshield" trotz des natürlich fehlenden Stimmcharismas von Originalsänger Peter Gabriel überzeugend rüber. Insbesondere bei "Blood On The Rooftops" („Wind & Wuthering"/GENESIS) sogen der kräftige Gesang sowie ein neues Arrangement für einen sehr positiven Eindruck. Ansonsten hat er sich auch noch eine weibliche Stimme für die Harmonieparts dazu geholt, ebenfalls sehr gelungen. Klar kann HACKETT gesanglich mit seinen ehemaligen Kollegen nicht so ganz mithalten aber mehr als ein Verlegenheitssänger ist er allemal. Das Publikum reagiert bei den alten Kracher dann entsprechend begeistert und als dann noch „Broadway Melody Of 1974“ (aus dem Klassiker „The Lamb Lies Down On Broadway“ sowie neben einen Drumsolo natürlich das grandiose „Los Endos“ die Scheibe beenden, kann man dem Altmeister insgesamt erneut ein sehr solides Livewerk attestieren.
Steve Hackett beweißt hier teilweise eindrucksvoll, dass alter Progrock im modernisierten Gewande zusammen mit seinen neuen Sachen bestens funktionieren können, er musikalisch immer noch was zu sagen und vor allem viel Leidenschaft zu geben hat.
Live Rails
Band:
Genre:
Nicht angegeben
Tracks:
20
Länge:
115:52 ()
Label:
Vertrieb:
Seiten