Band:

Zeraphine

Biografie2002 "Kalte Sonne"


Die Vergangenheit

Die beiden Hauptakteure bei ZERAPHINE, Sven Friedrich (voc.) und Norman Selbig (guit.), sind ehemalige Mitglieder der Band DREADFUL SHADOWS, wobei Sven (voc.) zu den Gründungsmitgliedern zählte und Norman seit 1996 zum Line Up gehörte. Die DREADFUL SHADOWS veröffentlichten 1994 ihr erstes Album und konnten sich durch ihre kraftvolle und gleichzeitig sehr melodische Mischung aus Wave, Gothic und einer Prise dunklem Rock schnell in der nationalen, aber auch in der internationalen Szene etablieren. Insgesamt brachte die Berliner Band vier Alben heraus und lösten sich Ende des Jahres 2000 auf dem Höhepunkt ihrer Karriere auf.



Die Band

Nahezu parallel zur Auflösung der DREADFUL SHADOWS entwickelten Sven Friedrich und der renommierte Berliner Produzent Thommy Hein zusammen die Idee für ein neues musikalisches Projekt. In Norman Selbig fanden sie kurze Zeit später die ideale Ergänzung zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen. Der landläufige Begriff "Band" eignet sich zur Beschreibung des internen Gefüges allerdings nur bedingt. Zur Darstellung der kreativen Struktur ZERAPHINEs bietet sich vielmehr das Bild eines Kerns an, der von zwei Schichten umgeben ist. Das Zentrum dieses Gebildes besteht aus Norman und Sven. Die beiden Musiker entwickeln die grundsätzlichen Ideen und bestimmen die eigentliche musikalische Richtung. Die erste Ebene außerhalb dieses zentralen Knotenpunktes bildet Thommy Hein. Nicht nur, dass Thommy für die Produktion zuständig ist – mit seinem technischen und musikalischen Verstand übt er auch maßgeblichen Einfluss auf die Musik aus. Sozusagen die äußerste – deshalb aber nicht minder wichtige – Schicht bilden drei weitere Musiker: Manuel (guitars/b-vocals), Michael (bass) und Marcellus (drums) fungieren zum einen als kompetente Studiomusiker, die durchaus auch eigene Ideen einbringen, und komplettieren zudem das Live-Line Up.



Der Name

Ursprünglich hörte das neue Projekt auf den Namen "Helix". Unter dieser Bezeichnung gab man Ende des Jahres 2000 bereits ein gutes Dutzend Konzerte, u.a. als Support der Gruppe LETZTE INSTANZ. Es sollte sich jedoch herausstellen, dass der Name "Helix" bereits von einer anderen Band genutzt wurde, so dass man gezwungen war, das Projekt neu zu benennen. Nachdem die beiden in den verschiedensten Bereichen nach einer neuen Bezeichnung suchten, fiel ihnen das Wort Seraph ins Auge. Dieser aus dem hebräischen stammende Begriff steht für ein himmlisches Wesen mit sechs Flügeln, Händen und einer menschlichen Stimme. Aus dem Plural (Seraphim) entstand dann der neue Name ZERAPHINE.



Die Musik

Für ZERAPHINE gab und gibt es kein musikalisches Konzept, das es zu verwirklichen und einzuhalten galt bzw. gilt. Die Musik entspricht einfach den Vorstellungen Svens und Normans, wie Musik klingen muss, damit sie ihnen selber gefällt. Dabei haben die beiden weder auf Klischees noch auf kommerzielle Gesichtspunkte geachtet, sondern schlichtweg ihren Gefühlen und Vorlieben, die von jahrelanger Erfahrung geprägt sind, freien Lauf gelassen. Das faszinierende Ergebnis dieses undogmatischen Schaffensprozesses bekommen wir auf dem Debütalbum "Kalte Sonne" zu hören. Sicher gibt es auf "Kalte Sonne" Passagen, die an die verblichenen DREADFUL SHADOWS erinnern. Zu diesen legitimen Reminiszenzen an die Vergangenheit Sven Friedrichs und Norman Selbigs gesellt sich jedoch ein großes Repertoire an neuen und auch ungewöhnlichen Einflüssen. Besonders die ausgefeilten und abwechslungsreichen Arrangements zeugen von der Offenheit der beteiligten Personen gegenüber vielerlei Musikarten. So avanciert "Kalte Sonne" zu einem dieser selten anzutreffenden Alben, die einerseits in sich geschlossen wirken, auf der anderen Seite jedoch – auch nach mehrmaligem Hören – zahlreiche Überraschungen bieten.



Die Texte

So etwas wie einen weltverbesserischen Ansatz wird man in den Texten auf "Kalte Sonne" vergeblich suchen. Mit ihren gefühlvollen und nachdenklichen Texten sprechen ZERAPHINE vielmehr an jeden einzelnen ihrer Hörer die Einladung aus, in ihre wunderschöne lyrische Welt einzutauchen, um dort ganz individuelle Eindrücke zu erlangen bzw. Denkanstöße zu entdecken. Es sind menschliche Gefühle, die eine zentrale Rolle spielen. Menschliche Gefühle, die jeder von uns schon einmal erlebt haben dürfte und die immer dann prägend werden, wenn das Leben einmal nicht auf der Sonnenseite stattfindet. Die Themen Trennung und Vergänglichkeit nehmen dabei eine zentrale Rolle ein. Trotz dieser vordergründig klischeehaften Thematik gelingt es Sven Friedrich durch seine Texte Bilder entstehen zu lassen, die genügend Offenheit besitzen, um sofort starke Gefühle zu versinnbildlichen und zu kommunizieren, die andererseits jedoch zu verschlüsselt sind, um banal oder oberflächlich zu wirken. Eine Gratwanderung, die man gerade im Metier der deutschsprachigen Musik nicht oft antrifft.



Die Sprache

Auch wenn die deutsche Sprache sicherlich zu den auffälligsten Merkmalen ZERAPHINEs gehört, so ist auch sie weder Ergebnis eines Konzepts, noch stellt sie eine konzeptionelle Maßgabe für die Zukunft dar. Texter Sven Friedrich sah es anfangs eigentlich nur als ein Experiment an, seine Zeilen in Deutsch zu verfassen. Dabei empfindet er den Umgang mit seiner Muttersprache gleichzeitig als Herausforderung sowie als gewisses Risiko. Schließlich betrat der Sänger hier Neuland und denjenigen Hörern, die in ZERAPHINE die Fortsetzung der DREADFUL SHADOWS finden wollen, präsentiert sich allein durch die andere Sprache ein vollkommen ungewohntes und neues Bild. Die Art und Weise jedoch, mit der Sven seine Gedanken in Worte fasst, belegt, dass auch das in der Musikbranche oftmals belächelte Deutsch hervorragend dazu geeignet sein kann, gefühlvolle und intelligente Texte entstehen zu lassen. Wie zuvor schon angedeutet, stellt Deutsch allerdings kein Muss für ZERAPHINE dar, und es darf nicht ausgeschlossen werden, dass in Zukunft andere Sprachen herangezogen werden.



Die Zukunft

Für das Debütalbum "Kalte Sonne" wird man sicherlich neue Kategorien erfinden müssen, da keiner der herkömmlichen einordnenden Begriffe ausreicht, um die Musik ZERAPHINEs hinlänglich zu beschreiben. Mit "Kalte Sonne" ist ein Album entstanden, das vor allem authentische, gefühlvolle, mutige und gleichwohl wegweisende Musik enthält. Musik also, die mit Attributen behaftet ist, die heutzutage bei weitem nicht mehr für jede Produktion geltend gemacht werden können. Es ist enorm wichtig für die Zukunft der Musik, dass sie immer wieder um neue Facetten bereichert wird. Und es sollte nur recht und billig sein, dass den Bands, die sich um diese Leistung verdient machen, dann auch die Zukunft gehört.





"Traumaworld" 2003


Wie alles begann

Den Grundstein für ZERAPHINE legten Sven Friedrich (Gesang) und Norman Selbig (Gitarre), nachdem sich ihre Band DREADFUL SHADOWS im Jahr 2000 aufgelöst hatte, zusammen mit dem Berliner Produzenten Thommy Hein. In dessen Studio entstand die erste ZERAPHINE-CD "Kalte Sonne", die 2002 veröffentlicht wurde. "Kalte Sonne" war ein erstaunliches Debüt. Komplett in Deutsch eingesungen, bot das Album ein sehr intensives Hörerlebnis, eine Reise durch emotionale Texte und dunkle, zwischen Aggressivität und Melancholie pendelnde Musik. Trotz oder vielleicht gerade wegen des hohen Anspruchs, den vor allem die lyrische Seite der Platte an ihre Hörer stellte, wurde "Kalte Sonne" auf Anhieb ein großer Erfolg.



Es wuchs zusammen, was zusammengehört

Waren ZERAPHINE zu Zeiten der Entstehung des Debütalbums ein zwar gut funktionierendes, aber dennoch in drei unterschiedlich stark involvierte Ebenen unterteiltes Konstrukt, so kann man mittlerweile von einer wirklichen Band im wahrsten Sinne des Wortes sprechen. Nach Sven und Norman sowie Thommy Hein bildeten die beteiligten Musiker seinerzeit quasi eine äußere Schicht der produktiven Struktur. Etliche Konzerte später und um einige Erfahrungen reicher stellten ZERAPHINE jedoch fest, dass sie sich schon derart gut aneinander gewöhnt und aufeinander eingespielt hatten, dass der "Umwandlung" in eine Band nichts mehr im Wege stand. Das Album "Traumaworld" ist also das Ergebnis eines kollektiven Arbeitsprozesses. Das kreative Zentrum besteht immer noch aus den Herren Friedrich und Selbig - Manuel Senger (Gitarre, Backing Vocals), Marcellus Puhlemann (Drums) und Michael Nepp (Bass) hatten allerdings die Möglichkeit, zu jedem Zeitpunkt der Entstehung von "Traumaworld" in das kreative Geschehen einzugreifen und so zum Beispiel die Arrangements zu beeinflussen. Wie schon in der Ära der DREADFUL SHADOWS nutzte die Gruppe einen im Umland Berlins gelegenen Bauernhof als Refugium. Dorthin zog sich das Quintett nur mit ein paar Songfragmenten bewaffnet zurück und erarbeitete gemeinsam das neue Werk. Nicht selten war auch Thommy Hein mit von der Partie, den Sven Friedrich gerne als "den Mann, der alles zusammenhält" bezeichnet. Stets hat der erfahrene Produzent Anregungen oder Verbesserungsvorschläge parat und ist somit ein nicht wegzudenkender Faktor.



Lingualer Seitenwechsel

Natürlich ist die offensichtlichste Veränderung gegenüber dem Debütalbum die Tatsache, dass Deutsch als alles beherrschende Sprache in der lyrischen Welt von ZERAPHINE vom Englischen abgelöst wurde. Für diese Feststellung reicht schon ein Blick auf die Tracklist. Eine Sensation ist dieser linguale Seitenwechsel jedoch nicht, obgleich scheinbar gerade die Verwendung des Deutschen nicht unerheblich zum Erfolg des Debüts beitrug. Bereits nach Fertigstellung von "Kalte Sonne" deutete Sven Friedrich an, dass seine Heimatsprache als Ausdrucksform zwar Experiment und Herausforderung zugleich, aber noch lange kein festgelegter Bestandteil oder gar eine Voraussetzung für die Gestaltung der Texte sei. Erstaunlicherweise schrieb Friedrich die ersten Zeilen für neue Songs wie "Light Your Stars" anfangs sogar auf Deutsch. Allerdings nur, um den fertigen Text dann dem Papierkorb zu übergeben. "Es ist schwer auszudrücken, aber viele der Lieder haben für mich einfach ein englisches Feeling", konstatiert der Texter. Und so kam es, dass von dem Dutzend neuer Tracks lediglich zwei Stücke auf Deutsch gesungen werden.



In der Ruhe liegt die Kraft

Mag der Zugang zu "Traumaworld" auf der textlichen Ebene für deutschsprachige Hörer nicht so reflexartig vonstatten gehen, wie es noch bei "Kalte Sonne" der Fall war, aus musikalischer Sicht empfängt das neue Werk sein Publikum mit weit geöffneten Armen. "Traumaworld" klingt sehr viel frischer und aggressiver, fast möchte man sagen: extrovertierter als der Vorgänger. Und es lässt einen deutlichen Reifungsprozess erkennen. Haftete dem Debüt vielleicht noch etwas hektisches Lampenfieber an, so sprüht das zweite Album vor eleganter Gelassenheit und Harmonie. ZERAPHINE haben einerseits den Mut zur Lücke, zur Ruhe und zur Reduktion, andererseits schütteln sie zauberhaft eingängige Melodien aus den Ärmeln. Häufig trifft man auf Passagen, in denen die Musiker etlichen Platz gelassen haben und sich eine ganz neue, ganz eigene Dynamik entwickeln kann. Viele Abschnitte werden nur vom Schlagzeug, Bass und eventuell vom Gesang getragen. Man nehme nur das cure-eske "Failing Breath" als Beispiel. Andererseits bezaubert die Band durch eingängige Melodien, wie es der grandios arrangierte Single-Track "Be My Rain" belegt. Ganz bewusst haben ZERAPHINE darauf geachtet, die Zahl der eingesetzten Instrumente überschaubar zu halten, dafür den Fokus aber umso mehr darauf zu richten, was jedes einzelne Instrument spielt.



Eine traumatische Welt

Zweifelsohne ist die Welt, in der wir leben, kein Kindergeburtstag. Kriege, Seuchen, Wirtschaftsprobleme - die Liste der Themen, die dem "normalen" Menschen Sorgen bereiten, könnte wohl noch lange weitergeführt werden. Auch an Sven Friedrich zogen diese dunklen Wolken nicht vorbei, ohne Schatten zu werfen. "Traumaworld" entstand in der Zeit, als der Krieg im Irak tobte, und dieses Ereignis hatte starke Auswirkungen auf den Inhalt der Platte. Wie schon bei "Kalte Sonne" wird man allerdings weder in noch zwischen den Zeilen weltverbesserische Ansätze finden. Vielmehr sind es erneut die negativen Eigenschaften des Menschen an sich, die - auf sehr persönliche Weise - thematisiert werden. Im Sog des Chaos´, das im Zweistromland herrschte, fällt diese Betrachtung dieses Mal besonders defätistisch aus. Der Begriff "Traumaworld" fasst somit genau das zusammen, was viele einzelne Stücke auf diesem Album zu sagen versuchen.





2005 "Blind Camera"


Tradition oder neue Wege?

Obwohl ZERAPHINE in dieser Form lediglich einige Jahre existieren und die Formation "erst" ihre dritte Platte auf den Markt bringt, gibt es im Arbeitsprozess der Hauptstädter bestimmte Dinge, die mittlerweile zu einer Art Tradition geworden sind. So zogen sich die Musiker im Vorfeld der eigentlichen Aufnahmen erneut auf den Bauernhof im Spreewald zurück, um hier gemeinsam das musikalische Fundament für "Blind Camera" zu legen. Zudem zog es die Band für die Recordings wieder in das Studio des Berliner Produzenten Thommy Hein, der auch schon bei den vorhergehenden Platten an den Reglern saß. Mit diesem vertrauten Umfeld im Rücken konnten sich ZERAPHINE daran machen, musikalische Veränderungen in Angriff zu nehmen. Um den Sound den Vorstellungen entsprechend zu verändern, arbeitete das Quintett vornehmlich mit Kontrasten innerhalb der einzelnen Songs. "Kaltes Herz" oder aber "I´m Numb" sind Beispiele dafür, wie sich die Instrumentierungen in den Strophen von denen der Refrains unterscheiden und den einzelnen Passagen ein ganz besonderes Gewicht verliehen wird. Vielleicht mögen viele Hörer diesen Wechsel des Klangbildes nicht derart offensichtlich empfinden, dass er als prägend für "Blind Camera" angesehen werden kann. So paradox es klingen mag: wahrscheinlich liegt genau in dieser Wahrnehmung, die einem vorgaukelt, es habe sich nicht viel verändert, die eigentliche Meisterleistung. Der Fünfer hat viel Mühe darauf verwendet, die angesprochenen Abschnitte so zu gestalten, dass trotz der unterschiedlichen Instrumentierungen keinerlei Brüche entstehen. Viele Neuerungen – wie beispielsweise auch die immer komplexer werdenden Gesangslinien – werden so vorläufig unterbewusst wahrgenommen und treten erst nach mehrmaligen genauem Hören in ihrer Gänze ans Tageslicht.



Deutsch oder Englisch?

Erstaunlicherweise entbrannte mit dem Erscheinen des Debütalbums "Kalte Sonne" im Jahr 2002 unter den Hörern eine bis an den heutigen Tag anhaltende Diskussion darüber, welche der beiden Sprachen – Deutsch oder Englisch – besser zur Musik und zu den Inhalten ZERAPHINEs passt. Die Tatsache, dass "Kalte Sonne" komplett in Deutsch eingesungen wurde, stellte seinerzeit für Sänger Sven Friedrich lediglich ein Experiment dar, keinesfalls aber Programmatik für die Zukunft. Das ein Jahr später erschienene Nachfolgealbum "Traumaworld" wurde dann auch bis auf zwei Lieder vollständig in der Muttersprache der Popmusik aufgenommen – und siehe da: ZERAPHINE konnten sich auch auf Englisch hören lassen! "Blind Camera" wählt diesbezüglich einen goldenen Mittelweg, englische und deutsche Texte halten sich die Waage. Wiederum steckt hinter dieser Aufteilung keinerlei Kalkül. Für Friedrich "funktionieren" manche Tracks nur in der jeweiligen Sprache, so dass die Festlegung der Mundart von Fall zu Fall eher unbewusst stattfand. Fakt ist, dass diese Mehrsprachigkeit dem Berliner Quintett sehr gut zu Gesicht steht. Sie lockert das Klangbild der LP souverän auf, versprüht einerseits internationalen Charme und zeigt andererseits, dass deutsche Texterei Niveau besitzen und reichlich Emotionen versprühen kann – man lasse hier nur einmal die Lyrics des hymnischen Stücks "Kaltes Herz" auf sich wirken.



Gothic oder Alternative?

Die berühmten Schubladen, verteufelt und geliebt gleichermaßen. Ähnlich wie bei der Problematik der Sprache, wird die Frage nach dem Stil regelmäßig von außen herangetragen, jedoch nicht innerhalb der Gruppe gestellt. Fragt man die Mitglieder ZERAPHINEs danach, welche Musik sie machen, wird man immer wieder nur ein und dieselbe Antwort zu hören bekommen: "Die, die uns gefällt!" Nichtsdestotrotz lassen sich natürlich stilistische Zuordnungen anbringen. Wies der Erstling "Kalte Sonne" noch verstärkt Merkmale des Gothics, der Nachfolger "Traumaworld" dahingegen eher Alternative-Einflüsse auf, pendelt "Blind Camera" zwischen diesen Polen. Ein Stück wie der fulminante Opener "I Never Want To Be Like You" zelebriert alternative Gitarrenmusik in Reinkultur und sogar von internationalem Format. Nur kurze Zeit später jedoch blitzen die Gothic-Wurzeln durch: "I Feel Your Trace" lässt die Gitarren so herrlich sägend zur Geltung kommen, als befände man sich in den besten THE MISSION-Zeiten. Das große Plus der ZERAPHINE von 2005 ist, dass die Band es mehr denn je versteht, verschiedene Stile aber auch unterschiedliche Instrumentierungen perfekt zu kombinieren. Gothic, Alternative und elektronische Einflüsse ergänzen sich zu einer eigenen typischen Spielart, die diese Berliner Formation unverwechselbar werden lässt. Es wird schon seinen Grund gehabt haben, dass es der Band gelang, die Rolle als Support-Act während der letzten HIM-Tour in einen reinen Siegeszug zu verwandeln. Gig für Gig konnten die Berliner Musiker die Herzen der HIM-Fans im Sturm erobern – eine Leistung, die vorher in dieser Form noch von keiner anderen Truppe erbracht werden konnte und deren "Nachwirkungen" sich in Form phänomenaler Besucherzahlen bei der anschließenden Mini-Tour ZERAPHINEs bemerkbar machten.



Blind oder sehend?

Mag sein, dass der ein oder andere Musikfreund stutzt, wenn er den Titel des neuen ZERAPHINE -Albums zu hören bekommt. "Blind Camera"? Das klingt nach Auto ohne Räder, nach Plattenspieler ohne Nadel. Ganz so ist es nicht gemeint. Natürlich ist diese Kamera, die hier für den Albumtitel herhält, nicht blind im eigentlichen Sinne und damit funktionsuntüchtig. Der Blick durch diesen Apparat ist möglich, die Frage ist nur, was das Auge wahrnehmen kann? Symbolisch steht die "blinde Kamera" für die Ambivalenz eines Blicks auf den Teil einer Sache, der etwas ganz anderes ausdrücken kann, als das Ganze eigentlich bedeutet. Oder, um es näher an die Thematik dieser neuen Platte heranzubringen, deren Texte sich erneut hauptsächlich mit den negativen Eigenschaften der Menschen auseinandersetzen: Der Blick von außen auf eine Person bzw. auf eine Begebenheit, in die diese verwickelt ist, kann ganz anders ausfallen, als die eigene Sichtweise eben jener betrachteten Persönlichkeit. Musikalisch wird der Albumtitel durch die drei Instrumentals "Blind Camera" I bis III aufgegriffen und verdeutlicht, die jeweils Melodien anderer Lieder enthalten. Während die Parts I und III Elemente des Stücks "Until I Finally Drown" aufweisen, spielt "Blind Camera II" mit Teilen des Tracks "Falscher Glanz". Apropos "sehend": "Blind Camera" wird in einer limitierten Version inklusive einer 45-minütigen DVD erscheinen, die für den Fan jede Menge Video- und Informationsmaterial bereit hält!





2006 "Still"


Es ist kein Wunder, dass etliche Major Companys die Independent-Szene immer noch umschwirren wie Fliegen ein saftiges Stück Kuchen. Hier findet man noch Ideen, hier gibt es ein Potenzial, das man andernorts oftmals vergebens sucht. Und dass sich Kajal geschminkte Augen gut verkaufen lassen, zeigen die Charts deutlich. Auch ZERAPHINE sahen sich mit verlockenden Angeboten der Industrieriesen konfrontiert. Der Plattenvertrag der Berliner Band war nach der Veröffentlichung ihres letzten und überaus erfolgreichen Albums "Blind Camera" ausgelaufen. Nun galt es zu entscheiden, welcher Weg für die Zukunft eingeschlagen werden soll. Ein Vertrag mit einem neuen Label? Major oder Independent? Weder noch! Das Quintett schlug einen anderen, einen viel konsequenteren und eigentlich auch äußerst charakteristischen Weg ein: Es gründete zusammen mit ihrem Produzenten Thommy Hein die Plattenfirma Phonyx. Nur so konnte gewährleistet werden, dass sich alle Ideen zu einhundert Prozent verwirklichen lassen. Und nur so konnte das neue Album Still ungestört die Qualität erlangen, die es letztendlich auszeichnet.



Gesungene Emotionen


"Verlass´ dich nicht auf tausend leere Worte", heißt es in "Niemand Kann Es Sehen" . Natürlich steht dieser Satz dort in einem ganz bestimmten Kontext. Trotzdem hat er eine universelle Aussage. Sänger Sven Friedrich gehört zu den Menschen, die ein Album gerne durch intensives Hören vollständig erschließen. Das beinhaltet auch und vor allem die lyrische Ebene. Selbstverständlich gibt es Musik, die ohne Worte auskommt. Sobald jedoch gesungen wird, sollte die Stimme nicht nur ein Instrument, sondern auch ein Vehikel für Inhalte sein. Texte sind nicht nur Worthülsen oder verbale Platzpatronen – das wird heutzutage viel zu oft vergessen. Wie wichtig das zuerst geschriebene und schließlich gesungene Wort sein kann, beweisen ZERAPHINE. Die Formation gehört zum erlesenen Kreis der Musiker, die eben nicht nur wegen der Komposition, sondern gerade auf Grund der Inhalte geschätzt wird. "Still" ist, wie die drei Vorgänger auch, kein Konzeptalbum im klassischen Sinne. Es sind erneut sehr persönliche Beobachtungen Friedrichs, die das Wesen der Lyrics ausmachen. Seine Gedanken, seine Gefühle werden die Fans abermals hineinreißen in eine Welt voller Denkanstöße. Der Texter bewegt sich sicher und elegant über das verbale Parkett – unabhängig von der Mundart. Es wird dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, dass dieses vierte ZERAPHINE-Album einen Titel trägt, der sowohl englisch als auch deutsch interpretiert werden kann, in beiden Sprachen jedoch dieselbe Bedeutung hat. Was zählt, sind die Emotionen, die transportiert werden. Und Gefühle sind und bleiben nun einmal international.



Instrumentale Gespräche


Es gibt eine Passage auf diesem Album, die geradezu exemplarisch für ein neues, ein viel intensiveres Zusammenspiel bei ZERAPHINE ist: Nach ca. zweieinhalb Minuten fließt "Gib Mir Dein Gift" in ein instrumentales Intermezzo der schönsten Art. Hier scheinen die beiden Gitarren, der Bass und das Schlagzeug miteinander zu sprechen. Es werden Fragen gestellt und Antworten gegeben – nonverbal. Und erst, nachdem der Austausch beendet ist, die instrumentale Konversation zu ihrem Ziel geführt hat, "darf" Sven Friedrich seine Stimme erheben und ins Geschehen eingreifen. Dieses ausgeprägte und nachdrückliche Zusammenspiel aller beteiligten Instrumente ist das Markenzeichen von "Still". Ganze 14 Tage haben die fünf Musiker in den Berliner Studios von Thommy Hein gejammt. "Still" ist keines dieser Alben, bei denen am Computer einzelne und separat eingespielte Spuren zu Liedern zusammengefügt wurden. "Still" entstand unter echten Live-Bedingungen. Das hört man nicht nur, man fühlt es regelrecht. Diese Platte hätte nur noch in einer Garage und nicht in den Räumen des Stammproduzenten aufgenommen werden müssen, um alle Klischees eines "echten" Rock-Albums zu erfüllen. "Still" ist organisch. Die fünf Berliner standen sich gegenüber, konnten sich in die Augen sehen und aufeinander reagieren, als die 12 Tracks dieser CD aufgenommen wurden. Es hat sich mehr als ausgezahlt, dass die Band darauf verzichtete, sich – wie sonst üblich – auf einen Bauernhof im Spreewald zurückzuziehen, um dort hauptsächlich theoretisch am neuen Material zu arbeiten. Hier wurde ein neuer Weg eingeschlagen, dessen Ziel in einem rau produzierten, kantigen und authentischen Werk lag.



Überzeugende Gipfel


ZERAPHINE bewegen sich auch im Sommer 2006 zwischen ihren Wurzeln, die im Gothic-Rock liegen, und modernen Alternative-Sounds. Die Single mit den Songs "Still" und "Inside Your Arms" als Doppel-A-Seite zeigt, dass sich die Formation in den Clubs zwischen den ganz großen Namen des Genres behaupten kann. Statt seelenlos zu expandieren, hat sich diese Band auf sich selbst und die eigenen Stärken konzentriert. ZERAPHINE befinden sich am vorläufigen Gipfel ihrer Entwicklung. Das Songwriting, die Texte, der Gesang, die Produktion – alles trifft genau den Kern dessen, was diese Gruppe ausmacht. "Still" ist nicht nur das beste ZERAPHINE-Album bisher, es ist auch eine der schönsten und überzeugendsten Platten, die man im Jahr 2006 zu hören bekommen wird – von hier bis zum Rand der Welt!



Stefan BrunnerQuelle: http://www.zeraphine.deDiscografieKalte Sonne (2002)

Traumaworld (2003)

Blind Camera (2005)

Still (2006)
www

Reviews

Blind Camera - Cover
Die Zeiten in denen Meilensteine des Gothic Rocks geschrieben wurden, sind vorbei. Das weiß sicherlich auch ZERAPHINE Fronter Sven Friedrich und er hat es selber miterlebt.
Die Macht In Dir - Cover
Deutsche Texte sind heuer schick, eine schöne Melodie Pflicht für die Charts, eine gesunde Portion Melancholie angesagt wie nie.
Traumaworld - Cover
Die Stimmen, welche die seeligen DREADFUL SHADOWS zurückwollten, verklangen bereits nach dem Debut "Kalte Sonne".