Review:

Human. :II: Nature.

(Nightwish)

Fünf Jahre ist es her, dass NIGHTWISH ihr letztes Studioalbum herausgebracht haben – entsprechend hoch sind die Erwartungen an das neue Machwerk, schließlich hat man mit Tuomas Holopainen und Marco Hietala zwei hervorragende Songwriter und mit Floor Jansen zudem eine begnadete Sängerin am Start. Man wartet also mit Spannung, was einem da kredenzt wird, zumal die Band beschloss, zu klotzen statt zu kleckern und gleich ein Doppelalbum herauszubringen, bestehend aus einem „regulären“ NIGHTWISH-Album und einem durch einige Sprachpassagen ergänzten Instrumentalepos. Obwohl das Werk mit dem eher sperrigen Titel „Human. :II: Nature.“ laut Musikerangaben explizit kein Konzeptalbum ist, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Konzept sehr wohl zu Grunde lag, denn das vorherrschende Thema ist klar die Entwicklung von Mensch und Natur sowie deren Wechselwirkung.

Der Opener „Music“ hat den Anspruch, die Entwicklung der Musik von ihren Anfängen in der Urgeschichte an einzufangen – kein kleines Unterfangen, weswegen es auch nicht verwundert, dass die Laufzeit um die 7 Minuten beträgt. Verwunderlicher ist dagegen schon eher, dass in diesen 7 Minuten so vergleichsweise wenig passiert: die ersten 6o Sekunden wähnt man sich ausschließlich einer Klangkulisse ausgesetzt, die vermutlich der einer steinzeitlichen Tropfsteinhöhle entsprechen soll und die, vorsichtig ausgedrückt, eher durch Ereignislosigkeit besticht. Bis Floor Jansen anfängt, zu singen, dauert es geschlagene 3 Minuten und bis zum Refrain (sofern man denn zu diesem späten Zeitpunkt noch von einem solchen sprechen kann, denn eigentlich fehlt dem Lied jegliche klassische Songstruktur) muss man sich bis anderthalb Minuten vor Schluss gedulden. Nun gut, Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden. Das darauffolgende „Noise“ tritt von vorherein deutlich mehr aufs Gaspedal, schwächelt aber etwas in Punkto Eingängigkeit, womit wir auch schon bei einem der Hauptprobleme des Albums angekommen wären: es fehlt an eingängigen Melodien.

In „Shoemaker“ widmet sich die Band dem Geologen Eugene Shoemaker. „Harvest“, dem Troy Donockley offensichtlich seinen musikalischen Stempel aufdrückte und konsequenterweise auch seinen Stimme leiht, ist ein netter Folksong, hat aber mit dem klassischen NIGHTWISH-Sound ähnlich viel zu tun wie Loreena McKennitt mit Heavy Metal. Auffällig ist, dass ausgerechnet die vom üblichen Sound deutlich in Richtung Folk abweichenden Songs noch die gefälligsten Melodien aufweisen: neben „Harvest“ ist „How´s The Heart“ der einzige Track, den man tatsächlich nach einmaligem Hören einigermaßen im Ohr hat, was beim Großteil des Materials selbst nach mehrfachen Durchläufen nicht so recht gelingen will.  „Procession“ zeichnet sich durch eine erneut gefährlich an Ereignislosigkeit grenzende Ruhe aus, „Tribal“ hingehen ist eine weitestgehend melodiefreie, dafür aber zugegebenermaßen ausgesprochen schwermetallische Quälerei, auch wenn der sonst auf „Human. :II: Nature.“ unterrepräsentierte Marco Hietala hier tatsächlich auch mal Gesangsparts beisteuern darf.

Das treffend betitelte „Endlessness“ schleppt sich äußert programmatisch über gefühlt endlose 7 Minuten dahin, ohne den Zuhörer mit einer richtigen Hook dafür zu entlohnen, weswegen das Ganze leider irgendwann dann trotz der Abwechslung durch Marco Hietala am Mikrofon ziemlich an den Nerven zerrt – Geduld ist eine Tugend, die man zum Hören von „Human. :II: Nature.“ eindeutig mitbringen sollte. Hatten NIGHTWISH sonst ein Händchen für Melodien, die trotz aller musikalischen Opulenz und Schwere leichtfüßig über den Arrangements schwebten und sich oftmals gnadenlos im Ohr festkrallten, so hapert es in diesem Punkt auf dem neuen Werk leider an vielen Stellen gewaltig: die Melodien lahmen, sie holpern, stolpern und schleppen sich oftmals nur mit Mühe über die volle epische Länge, was auch deshalb schade ist, weil es Floor Jansens großartigem Gesangstalent in keiner Weise gerecht wird. An vielen Stellen geht ihre Stimme geradezu unter und ist weit davon entfernt, als verbindender Melodiebogen über den Arrangements zu liegen – ein Umstand, der umso befremdlicher erscheint, als Tuomas Holopainen offiziell zu Protokoll gab, es handele sich bei „Human. :II: Nature.“  um ein Album, bei dem der Gesang im Vordergrund stehe. Sicher, Troy Donockley als weiteren Sänger an Bord zu holen stellt eine Erweiterung des bisherigen Repertoires dar, aber warum darf Floor Jansen nicht zeigen, wozu sie sich schon bei unzähligen Konzerten und auf „Endless Forms Most Beautiful“ als fähig erwiesen hat? Und warum kommt Marco Hietalas Gesang als Kontrapunkt nur so überaus spärlich zum Einsatz? Fragen über Fragen begleiten das Anhören von „Human. :II: Nature.“, und  nur die wenigsten davon stehen im Zusammenhang mit dem fraglos intendierten, aus der Thematik resultierenden Denkanstoß.

CD Nummer 2 beherbergt nicht etwa Instrumentalversionen des ersten Silberlings, sondern ein stark an einen Soundtrack erinnerndes Instrumentalepos, bei dem schon Titel wie „Vista“, „Moors“ und „Aurorae“ verraten, dass auch hier der Fokus auf die Natur erhalten bleibt. Gelegentliche Spoken Word-Passagen verdeutlichen das gesetzte Ziel vor weitestgehend sehr ruhig gehaltener Klangkulisse. Man kann sich darüber streiten, ob diese Tracks wirklich unter dem Namen NIGHTWISH veröffentlicht werden mussten oder ob Tuomas Holopainen sie nicht besser unter eigenem Namen separat an den Mann gebracht hätte, denn mit der Musik der Band hat die Suite, sieht man einmal von ihrem Urheber ab, nicht viel zu tun. Entsprechend handelt es sich hier mehr um schmückendes Beiwerk bzw. Selbstverwirklichung des Songwriters denn um ein tatsächliche NIGHTWISH-Veröffentlichung, Name hin oder her.

FAZIT: NIGHTWISH haben ein ums andere Mal bewiesen, dass sie nicht umsonst seit Jahren auf dem Symphonic Metal-Thron sitzen und „Human. :II: Nature.“ ist zweifellos ein ambitioniertes Projekt, doch es erinnert in seiner praktischen Umsetzung ein wenig an die Geschichte von Ikarus: auch der strebte nach Großem und das zunächst mit Erfolg, bevor er, durch diesen Erfolg übermütig geworden, zu viel verlangte, das Schicksal herausforderte und scheiterte. Man kann „Human. :II: Nature“ als ein Projekt ansehen, dass sich über Grenzen hinwegsetzt, Songstrukturen auflösen und Hörgewohnheiten erweitern will, um Großes zu schaffen, man kann aber auch einfach sagen: den Songs fehlt der rote Faden, sie sind überfrachtet, wollen zu viel und erreichen zu wenig. Schönheit liegt bekanntlich im Auge bzw. Ohr des Betrachters. Vielleicht war die Band zu satt geworden und wollte neue Wege gehen oder Tuomas Holopainen strebte, inspiriert vom Fokus auf die Natur und ihre Zeiträume, nach etwas Höherem, Allumfassenderem. Doch was in erdgeschichtlichen Zeiträumen funktioniert, lässt sich selbst von begnadeten Musikern nicht zwangsläufig auf die Musik übertragen und in wenige Minuten bannen, und zumindest innerhalb der durchschnittlichen Hörgewohnheiten funktioniert „Human. :II: Nature.“ über weite Strecken --leider!—nicht.

Human. :II: Nature.


Cover - Human. :II: Nature. Band:

Nightwish


Genre: Heavy Metal
Tracks: 9+8
Länge: 81:0 (2-CD)
Label: Nuclear Blast Records
Vertrieb: Warner