Review:

The Bitter Truth

(EVANESCENCE)

TIPP

Als das Album “Fallen“ von EVANESCENCE 2003 erschien, war das einerseits ein Meilenstein im Rock, für die Band jedoch so etwas wie der Fluch der guten Tat. Das Werk passte in jedweder Hinsicht in den damals vorherrschenden Zeitgeist, und explizit das Songwriting mit Amys kongenialem Partner Ben Moody (Gitarre) war unfassbar brillant. Folglich lagen die Messlatte und die damit einhergehenden Erwartungen an kommende Werke ausgesprochen hoch.
Mit ihrem fünften Longlayer “The Bitter Truth“ wurden nun die Segel gesetzt, um zu alten Ufern aufzubrechen. Die Mannschaft ist im Großen und Ganzen seit 2007 gemeinsam unterwegs, lediglich an der Gitarre wurde 2015 ein Wechsel vollzogen. Dort verrichtet nun die gebürtige Stuttgarterin Jen Majura überaus ambitioniert ihren Dienst.
Mit “Artifact/The Turn“ gleiten wir sanft hinein... der Kahn nimmt dann aber direkt mit dem starken “Broken Pieces Shine“ so richtig Fahrt auf. “The Game Is Over“ schlägt musikalisch in die gleiche Post-Grunge-Kerbe, bevor mit “Yeah Right“ modernere, MUSE-ähnliche Arrangements zu Gehör kommen. Angetrieben wird die Crew förmlich durch das dominante, aber einfache Schlagzeugspiel von Will Hunt. Nach dem düster-schweren “Feeding The Dark“ bewegt man sich bei “Wasted On You“ an den Klippen des Kitsches entlang. Amys epischer Gesang, verbunden mit den dunklen Gitarren, macht das radiotaugliche Stück dann doch noch zu etwas Besonderem. Nachdem uns das deftige Gitarrenbrett “Better Without You“ und das nicht weniger zornige “Use My Voice“ um die Ohren geflogen sind, gönnt uns das Ensemble bei “Far From Heaven“, der einzig echten Ballade, einen Moment der Ruhe, bevor es mit viel Dampf am Ende die Dunkelheit vertreibt.

Die Musik ist rau, der Sound ist roh, und der kraftvolle, hymnische Gesang von Frau Lee, der in den letzten Jahren an Volumen und Farbe zugelegt hat, gibt mal beschwörend, mal wütend, teils verletzlich, den Kurs vor.
Inspiriert von Kampf, Verlust und den Missständen des 21. Jahrhunderts, entstand in den Wirrungen der Pandemie eine Platte mit enorm viel Energie, Variabilität und einer Dynamik, die man von der Truppe so nicht erwartet hätte.
Es ist eine reinrassige, aber dennoch verspielte Rock-Scheibe, auf der zwar kein Song vom Kaliber “Bring Me To Life“ oder “My Immortal“ zu finden ist, die aber alle Facetten der Combo widerspiegelt und deutlich die Weiterentwicklung von EVANESCENCE als gereifte Band manifestiert sowie den Vergleich zu ihrem Debüt beileibe nicht mehr zu scheuen braucht.

 

The Bitter Truth


Cover - The Bitter Truth Band:

EVANESCENCE


Genre: Alternative
Tracks: 12
Länge: 47:15 (CD)
Label: Columbia Local
Vertrieb: Sony Music