Mit neuem Album im Gepäck sind die Jungs von HIM gerade unterwegs, um einen ersten Live-Vorgeschmack auf das neue Material zu bieten und gastieren zu diesem Zweck auch zu zwei exklusiven, kleiner als sonst gehaltenen Konzerten in Deutschland. Bassist Migé Amour nahm sich in Dortmund die Zeit, trotz angeschlagenem Gesundheitszustand mit uns über "Screamworks", Totemtiere, Akustikversionen und Literatur im Allgemeinen und Besonderen zu plauschen.InterviewIch habe gehört, du bist dem Schicksal anheim gefallen, dass früher oder später jeden, der mit dem Bus unterwegs ist, ereilt?
Ja, ich bin erkältet- hört man ja wahrscheinlich-, aber geht schon. Kein Problem.
Okay, dann legen wir mal los, damit du dich bald zumindest noch ein bisschen ausruhen kannst, bevor´s auf die Bühne geht. Ihr habt ja zusammen mit dem neuen Album das gesamte Material noch einmal als zusätzliche Akustik-Platte herausgebracht. Wie seid ihr auf die Idee gekommen beziehungsweise kannst du da ein bisschen was drüber erzählen?
Das ist die Art und Weise, auf die alle HIM-Songs anfangen. Sie beginnen als Akustik-Songs, so schreibt Ville sie. Es ist viel Arbeit, so ein Album zu machen, solche Versionen zu schaffen, aber diesmal hatte er Willen, es zu machen. Ich finde es ist eine tolle Idee, weil man dadurch gewissermaßen die ganze Entwicklung eines Songs sieht. Ich denke, das ist sehr interessant, wenn man Interesse an der Band hat, ich finde das eine nette Idee.
Akustik-Versionen sind ja eigentlich auch immer schön, um sich einen netten Abend zu machen und ein bisschen runterzukommen.
Ja, genau, und dann weiß man auch, was das eigentliche Skelett des Lieds ist. Worum es wirklich geht. Im Studio kann man so etwas sonst ja ganz gut unter allem möglichen an Drumherum verstecken, man wird konstant dazu in Versuchung geführt. Es ist also eine gute Möglichkeit, das eigene Selbst freizulegen.
Ihr habt das fertige Werk "Baudelaire In Braille" genannt. Baudelaire war ein berühmter französischer Decadence-Dichter und Braille ist die Blindenschrift. Wie seid ihr zu diesem Titel gekommen, was steckt dahinter?
Es bedeutet gewissermaßen... In einem gewissen Sinne könnte man sagen es bedeutet, dass Liebe blind ist. Und dass alle Liebenden blind sind. Das ist eigentlich das, was wir uns dabei gedacht haben.
Baudelaires berühmtestes Werk heißt "Fleurs Du Mal" beziehungsweise in der englischen Übersetzung "Flowers Of Evil". Die selbe Zeile taucht bei euch in dem Song "Funeral Of Hearts" auf. (Migé fängt an zu lächeln). Ist das Zufall oder bewusste Anlehnung? Es handelt sich ja nicht gerade um einen übermäßig alltäglichen Ausdruck.
Es ist... weißt du, es so etwas wie eine kleine Verneigung vor ihm. Er so jemand, dessen Image, zumindest für meine Generation, letztendlich größer ist als sein Werk. Ich glaube eigentlich nicht, dass besonders viele Leute Baudelaire gelesen haben, ich habe es nicht- okay, teilweise. Ich habe ein paar Zeilen hier und da gelesen, aber ich glaube, was er repräsentiert, ist inzwischen größer als sein Werk. Wenn du "Baudelaire" sagst, weiß jeder, worum es geht. Aber ich kann ihn nicht zitieren, abgesehen von "Flowers Of Evil", weil es halt nun mal auch in unserem Lied vorkommt. Er ist eine Art ikonische Figur und deswegen taucht er bei uns in den Lyrics auf.
Ihr verwendet auch viele Anspielungen auf klassische Texte und Mythologien, auch aus der Bibel. Hat das den selben Grund?
Ja, eigentlich sogar genau den selben Grund. All die biblischen Figuren und auch die aus der Literatur generell sind gewissermaßen universell. Ihre Position im Leben ist quasi wie Jesus, man sagt damit unendlich viel mehr als nur ein einziges Wort oder einen Namen. Viel mehr als wenn man beispielsweise einfach nur "Mist!" sagt- das ist zwar natürlich auch ein Statement, aber trotzdem etwas anderes. Diese Figuren sind einfach metaphorischer. Wenn wir einen Text haben, der "Ave Maria" und derartiges enthält ist es dadurch ja trotzdem kein religiöser Text. Es ist ein Text über Beziehungen, der sich religiöser Bilder bedient. Und mehr als das, natürlich, es mag auch Ausnahmen geben. Ich bin natürlich auch nicht derjenige, der die Texte schreibt, das ist also nur meine Sicht der Dinge, aber ich denke schon, dass es auch Villes Meinung ist.
Ihr stellt die Dinge dadurch ja in aller Deutlichkeit und gleichzeitig doch versteckt dar, weil man sozusagen den Code kennen muss, um über die Symbolik die Inhalte zu verstehen.
Exakt. Es ist dann auch nicht so direkt und irgendwie platt, sondern lässt mehr Interpretationsfreiraum zu. Dadurch werden verschiedene Leute in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Dinge darin sehen.
Insbesondere auf "Screamworks" habt ihr schon fast alle paar Zeilen Verweise eingebaut. In eurer frühen Phase habt ihr euch ja auch gerne mal auf H.P. Lovecraft bezogen.
Ja, wir hatten da diesen Demo-Song, er hieß "Borellus".
Der größere Teil des Textes ist ein direktes Originalzitat.
Ja, stimmt, das meiste ist direkt aus dem Buch abgeschrieben.
"The Case Of Charles Dexter Ward".
Genau, es geht um diese essentiellen Salze. Wir sind riesengroße H.P.Lovecraft-Fans, Ville und ich. Ich liebe seine Werke. Er übertreibt so, eigentlich ist es fast schon komisch, aber es sind so gut gemachte Geschichten. (Er fängt an zu lachen).Wenn irgendwas Schlimmes des Weges kommt, ist es immer gleich absolut undenkbar...
Unaussprechlich...
Ja, ich mag das. Ich mag es übertrieben.
Ihr hattet ja auch mal einen Remix mit Namen "Erich Zann Supernatural Remix" (Anm.d. Red. "The Music Of Erich Zann" ist der Titel einer Kurzgeschichte Lovecrafts), das war eine sehr nette Idee...
Ja, war´s echt. Es hat auch wirklich gut zur Musik gepasst, denn seine Musik...
Versuchte, das Chaos in Schach zu halten?
Ja, und sie war undenkbar. Nicht von dieser Welt. Ein guter Name für einen seltsamen Remix.
Ich habe auch gehört, dass ihr mal gefragt worden seid, ob ihr ein Lied zum Soundtrack eines Films über Orpheus und Eurydike beitragen wolltet. Stimmt das?
Ja, ich glaube darüber gab es mal eine Diskussion. Aber ich glaube nicht, dass es dann jemals in die Tat umgesetzt wurde. Solche Sachen sind eine ziemliche logistische Herausforderung. Es ist nicht ganz einfach, zum einen muss man dazu von vorneherein erst mal einen Song abtreten und dann muss das Timing wirklich perfekt sein und bis ins kleinste Detail stimmen. Ich glaube, es ist nie etwas dabei herausgekommen.
Eigentlich schade, hätte ja ziemlich gut zu euch gepasst.
Ja, stimmt. Oder vielleicht haben wir es doch gemacht und ich kann mich irgendwie bloß nicht dran erinnern...(Er lacht). Aber ich zumindest kann mich wirklich nicht daran erinnern, es ist immer so viel los...
Wo wir schon gerade über Filme sprechen: im Video zu Heartkiller, eurer ersten Single vom neuen Album, sieht man euch abwechselnd und zum Teil auch übereinandergeblendet mit einer Reihe ausgestopfter Tiere, wodurch ein bisschen der Eindruck entsteht, ihr würdet in einem Naturkundemuseum spielen. Was war der Gedanke dahinter?
Das sind Totemtiere. Die amerikanischen Ureinwohner glauben zum Teil, dass jeder Mensch ein Totemtier hat und mit dieser Idee haben wir gespielt, so dass jedes Bandmitglied eine Art Tiergeist oder Tiergefährten hat. Es war ziemlich schwierig, da eine Wahl zu treffen und ich bin nicht sicher, ob jeder von uns sein richtiges Totemtier gefunden hat, aber zumindest einige davon wirkten recht überzeugend.
Und wer hat welches Totemtier?
Ich glaube Burton war eine Eule, Gas war diese Art kleiner, gemeiner Affe. Ich war ein Schwein- damit kann ich mich identifizieren, definitiv. Ich habe schweinische Züge zum Teil, viele sogar. Aber Schweine sind intelligente Tiere und sie sind auch nicht so schmutzig, wie viele Leute oft denken. Sie wälzen sich bloß gerne mal im Schlamm, das ist nicht so schlimm. Linde war eine Antilope oder so etwas in der Art. Er ist sehr agil und läuft immer im Kreis herum, wie ein kleines Reh. Das war die Idee. Ich weiß nicht, ob der Regisseur und Ville zusätzlich noch eine andere hatten.
Welches Totemtier hatte denn Ville, den hast du gar nicht genannt.
War das ein Bär? Oder nein, ein Wolf... (Er überlegt). Oder doch ein Bär? Es scheint im Video durch sein Gesicht... Mensch. Es war irgendwas seltsames, vielleicht ein Bär. Schau besser noch mal nach, man sieht es auf jeden Fall. (Anm.d.Red: Es ist tatsächlich ein Bär, vorher tauchen allerdings auch noch kurz ein Tiger und ein Widderschädel auf).
Und warum hat Gas einen Affen als Totemtier?
Er hat ein schelmisches, verschmitztes Naturell. Er ist so ein kleiner Teufel, ein Schlingel. Es passt einfach zu ihm. Ich finde es sehr interessant, darüber nachzudenken, was für ein Totemtier jemand hat. Es ist nicht immer offensichtlich. Man könnte zum Beispiel meinen, dass Gas ein Schwein haben würde, aber das habe dann letztendlich ich, falls du weißt, was ich meine- und er war der kleine Affe.
Ja, da muss man schon eine Weile drüber nachdenken und die eigene Kreativität spielen lassen. Meinst du, du kannst deine Kreativität vielleicht noch ein bisschen mehr strapazieren und eine Comic-Version von entweder dir oder der gesamten Band zeichnen?
Ja klar, warum nicht. Dann gib mal den Block her...Es ist schwierig, sich da etwas einfallen zu lassen... (Er beginnt, zu zeichnen).
Ihr habt jetzt für einen späteren Zeitpunkt noch eine umfassendere Europa-Tour in Planung?
Ja, das ist zumindest der Plan. Aber wir wissen bis jetzt noch nicht in welchem Ausmaß, ob da überhaupt Interesse da ist, wie das Album läuft und solche Dinge.
Naja, also Interesse dürfte ja wohl da sein, immerhin habt ihr die beiden jetzigen Shows komplett ausverkauft.
(Hochkonzentriert aufs Zeichnen und ohne den Blick vom Block abzuwenden) Ja, das stimmt, bisher war es toll.
Ihr habt jetzt ja mit dieser Tour in Australien angefangen. Was habt ihr da für Eindrücke bekommen?
Wir haben da auf diesem mobilen Festival gespielt. Es ist irgendwie seltsam, weil der Flug dahin so wahnsinnig lang ist, und die Zeitverschiebung ist wirklich entsetzlich. Es ist ein furchtbarer, furchtbarer Flug. (Er zeichnet weiter). Oh, ich fürchte das wird ein bisschen bizarr hier, ich glaube ich bekomme Fieber...
Oh, das tut mir leid.
Nein, nein, keine Sorge, mir tut´s leid, dass dein Comic etwas psychedelisch wird.
Das macht überhaupt nichts, wenn dir gerade psychedelisch zumute ist, ist das vollkommen in Ordnung. Würdest du denn sagen, dass es große Unterschiede im Publikum gibt was Mentalität und allgemeine Reaktion angeht, je nachdem, wo ihr spielt?
Ja, da gibt es auf jeden Fall Unterschiede, aber ich neige eigentlich dazu zu sagen, dass das egal ist. Das agilste, dynamischste Publikum ist nicht zwangsläufig auch immer das beste- manche Leute behaupten das ja, aber ich finde das nicht. Es kann genauso gut sein, dass die Leute da dann eigentlich überhaupt nicht zuhören, weil sie schon 17 Bier getrunken haben, durch die Gegend hüpfen und eigentlich gar nichts mitbekommen. Auch ein ruhiges Publikum, das einfach zuhört, ist sehr gut. Das hängt von vielen verschiedenen Dingen ab, auch davon, welcher Wochentag gerade ist- ob es unter der Woche ist oder meinetwegen ein Samstagabend. Gestern in Amsterdam zum Beispiel war es toll- es ist immer schön, im Paradiso zu spielen, weil es eine tolle Location ist. Eine alte Kirche. Geweihter Boden.
Cool, das stellt natürlich etwas da und passt auch zu euch. Viele Leute listen euch ja auch nach wie vor gerne unter Gothic Rock, auch wenn ihr da nur bedingt reinpasst.
Ja, wir haben schon starke Gothic-Einflüsse, auf jeden Fall.
Ich habe kurz vor der Album-Veröffentlichung mit Gas gesprochen und er schien sehr überrascht, dass nach wie vor viele Leute dieser Ansicht sind.
(Er muss lachen). Ach, der arme Gas. Er ist solch ein Metalhead, ich glaube manchmal bereitet ihm das etwas Sorgen...Ich meine, man kann nicht leugnen, dass wir keine Metalband sind. Wir sind schon eher eine Art Gothic-Rockband. Aber Gas ist so ein großer Metal-Fan, ich glaube er findet diese Tatsache manchmal etwas verstörend.
Oh, ich hatte nicht die Absicht, ihn zu traumatisieren.
Nee, natürlich nicht, das ist schon in Ordnung.
"Venus Doom" war ja deutlich mehr metal-lastig als das tendenziell eher poppige neue Album.
Ja, das neue Album ist irgendwie... naja, nicht direkt glücklich, aber es ist positiver und verbreitet eine positive Stimmung. Bei "Venus Doom" haben wir wohl gerade eine eher schwere Zeit in unserem Leben durchgemacht.
Wie passt denn der neue Albumtitel deiner Meinung nach in eurer bisheriges Yin Yang-Prinzip?
Hm... Da habe ich ehrlich gesagt noch gar nicht richtig drüber nachgedacht. Ich weiß es nicht. Vielleicht so was wie "Love and Screams", das sind ja meist schon zwei Gegensätze. Wenn es sich nicht gerade um orgasmische Schreie handelt... Was in diesem Fall wahrscheinlich sogar der Fall ist. Ich hoffe es zumindest... (Er beendet die Zeichnung.) So, ich bin fertig! Erkennst du ihn? Es ist Gas, ich habe extra noch den Drumstick dazugemalt, um sicherzugehen.
Mag der Lovecraft auch? (Anm.d.Red. Der in freier Anlehnung von Migé gezeichnete "mighty Cthulhu" ist einer der Götter im H.P.Lovecraft-Kosmos).
Du meinst Gas? Er ist nicht so die Leseratte.
Also würde er gar nicht wissen, was du da mit ihm angestellt hast?
Doch, ich denke schon, soweit müsste er das kennen...obwohl, vielleicht sollte ich nachfragen, er sollte das wissen... Doch, ich glaube schon, vielleicht von METALLICA, daher könnte er ihn kennen (Anm.d.Red. METALLICAs "The Call Of Ktulu" bezieht sich- trotz anderer Schreibweise- ebenfalls auf Lovecraft).
Weißt du, das sieht doch gut aus, da tun sich völlig neue Karriereoptionen auf!
(Er lacht). Irgendwann bringe ich dann eine Comic-Reihe heraus, "The Extraordinary Life of Gas Lipstick".
Genau! Aber jetzt steht ja erst mal noch die Musik an, also viel Glück für die Show nachher und danke für das Interview!
Ja, ich bin erkältet- hört man ja wahrscheinlich-, aber geht schon. Kein Problem.
Okay, dann legen wir mal los, damit du dich bald zumindest noch ein bisschen ausruhen kannst, bevor´s auf die Bühne geht. Ihr habt ja zusammen mit dem neuen Album das gesamte Material noch einmal als zusätzliche Akustik-Platte herausgebracht. Wie seid ihr auf die Idee gekommen beziehungsweise kannst du da ein bisschen was drüber erzählen?
Das ist die Art und Weise, auf die alle HIM-Songs anfangen. Sie beginnen als Akustik-Songs, so schreibt Ville sie. Es ist viel Arbeit, so ein Album zu machen, solche Versionen zu schaffen, aber diesmal hatte er Willen, es zu machen. Ich finde es ist eine tolle Idee, weil man dadurch gewissermaßen die ganze Entwicklung eines Songs sieht. Ich denke, das ist sehr interessant, wenn man Interesse an der Band hat, ich finde das eine nette Idee.
Akustik-Versionen sind ja eigentlich auch immer schön, um sich einen netten Abend zu machen und ein bisschen runterzukommen.
Ja, genau, und dann weiß man auch, was das eigentliche Skelett des Lieds ist. Worum es wirklich geht. Im Studio kann man so etwas sonst ja ganz gut unter allem möglichen an Drumherum verstecken, man wird konstant dazu in Versuchung geführt. Es ist also eine gute Möglichkeit, das eigene Selbst freizulegen.
Ihr habt das fertige Werk "Baudelaire In Braille" genannt. Baudelaire war ein berühmter französischer Decadence-Dichter und Braille ist die Blindenschrift. Wie seid ihr zu diesem Titel gekommen, was steckt dahinter?
Es bedeutet gewissermaßen... In einem gewissen Sinne könnte man sagen es bedeutet, dass Liebe blind ist. Und dass alle Liebenden blind sind. Das ist eigentlich das, was wir uns dabei gedacht haben.
Baudelaires berühmtestes Werk heißt "Fleurs Du Mal" beziehungsweise in der englischen Übersetzung "Flowers Of Evil". Die selbe Zeile taucht bei euch in dem Song "Funeral Of Hearts" auf. (Migé fängt an zu lächeln). Ist das Zufall oder bewusste Anlehnung? Es handelt sich ja nicht gerade um einen übermäßig alltäglichen Ausdruck.
Es ist... weißt du, es so etwas wie eine kleine Verneigung vor ihm. Er so jemand, dessen Image, zumindest für meine Generation, letztendlich größer ist als sein Werk. Ich glaube eigentlich nicht, dass besonders viele Leute Baudelaire gelesen haben, ich habe es nicht- okay, teilweise. Ich habe ein paar Zeilen hier und da gelesen, aber ich glaube, was er repräsentiert, ist inzwischen größer als sein Werk. Wenn du "Baudelaire" sagst, weiß jeder, worum es geht. Aber ich kann ihn nicht zitieren, abgesehen von "Flowers Of Evil", weil es halt nun mal auch in unserem Lied vorkommt. Er ist eine Art ikonische Figur und deswegen taucht er bei uns in den Lyrics auf.
Ihr verwendet auch viele Anspielungen auf klassische Texte und Mythologien, auch aus der Bibel. Hat das den selben Grund?
Ja, eigentlich sogar genau den selben Grund. All die biblischen Figuren und auch die aus der Literatur generell sind gewissermaßen universell. Ihre Position im Leben ist quasi wie Jesus, man sagt damit unendlich viel mehr als nur ein einziges Wort oder einen Namen. Viel mehr als wenn man beispielsweise einfach nur "Mist!" sagt- das ist zwar natürlich auch ein Statement, aber trotzdem etwas anderes. Diese Figuren sind einfach metaphorischer. Wenn wir einen Text haben, der "Ave Maria" und derartiges enthält ist es dadurch ja trotzdem kein religiöser Text. Es ist ein Text über Beziehungen, der sich religiöser Bilder bedient. Und mehr als das, natürlich, es mag auch Ausnahmen geben. Ich bin natürlich auch nicht derjenige, der die Texte schreibt, das ist also nur meine Sicht der Dinge, aber ich denke schon, dass es auch Villes Meinung ist.
Ihr stellt die Dinge dadurch ja in aller Deutlichkeit und gleichzeitig doch versteckt dar, weil man sozusagen den Code kennen muss, um über die Symbolik die Inhalte zu verstehen.
Exakt. Es ist dann auch nicht so direkt und irgendwie platt, sondern lässt mehr Interpretationsfreiraum zu. Dadurch werden verschiedene Leute in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Dinge darin sehen.
Insbesondere auf "Screamworks" habt ihr schon fast alle paar Zeilen Verweise eingebaut. In eurer frühen Phase habt ihr euch ja auch gerne mal auf H.P. Lovecraft bezogen.
Ja, wir hatten da diesen Demo-Song, er hieß "Borellus".
Der größere Teil des Textes ist ein direktes Originalzitat.
Ja, stimmt, das meiste ist direkt aus dem Buch abgeschrieben.
"The Case Of Charles Dexter Ward".
Genau, es geht um diese essentiellen Salze. Wir sind riesengroße H.P.Lovecraft-Fans, Ville und ich. Ich liebe seine Werke. Er übertreibt so, eigentlich ist es fast schon komisch, aber es sind so gut gemachte Geschichten. (Er fängt an zu lachen).Wenn irgendwas Schlimmes des Weges kommt, ist es immer gleich absolut undenkbar...
Unaussprechlich...
Ja, ich mag das. Ich mag es übertrieben.
Ihr hattet ja auch mal einen Remix mit Namen "Erich Zann Supernatural Remix" (Anm.d. Red. "The Music Of Erich Zann" ist der Titel einer Kurzgeschichte Lovecrafts), das war eine sehr nette Idee...
Ja, war´s echt. Es hat auch wirklich gut zur Musik gepasst, denn seine Musik...
Versuchte, das Chaos in Schach zu halten?
Ja, und sie war undenkbar. Nicht von dieser Welt. Ein guter Name für einen seltsamen Remix.
Ich habe auch gehört, dass ihr mal gefragt worden seid, ob ihr ein Lied zum Soundtrack eines Films über Orpheus und Eurydike beitragen wolltet. Stimmt das?
Ja, ich glaube darüber gab es mal eine Diskussion. Aber ich glaube nicht, dass es dann jemals in die Tat umgesetzt wurde. Solche Sachen sind eine ziemliche logistische Herausforderung. Es ist nicht ganz einfach, zum einen muss man dazu von vorneherein erst mal einen Song abtreten und dann muss das Timing wirklich perfekt sein und bis ins kleinste Detail stimmen. Ich glaube, es ist nie etwas dabei herausgekommen.
Eigentlich schade, hätte ja ziemlich gut zu euch gepasst.
Ja, stimmt. Oder vielleicht haben wir es doch gemacht und ich kann mich irgendwie bloß nicht dran erinnern...(Er lacht). Aber ich zumindest kann mich wirklich nicht daran erinnern, es ist immer so viel los...
Wo wir schon gerade über Filme sprechen: im Video zu Heartkiller, eurer ersten Single vom neuen Album, sieht man euch abwechselnd und zum Teil auch übereinandergeblendet mit einer Reihe ausgestopfter Tiere, wodurch ein bisschen der Eindruck entsteht, ihr würdet in einem Naturkundemuseum spielen. Was war der Gedanke dahinter?
Das sind Totemtiere. Die amerikanischen Ureinwohner glauben zum Teil, dass jeder Mensch ein Totemtier hat und mit dieser Idee haben wir gespielt, so dass jedes Bandmitglied eine Art Tiergeist oder Tiergefährten hat. Es war ziemlich schwierig, da eine Wahl zu treffen und ich bin nicht sicher, ob jeder von uns sein richtiges Totemtier gefunden hat, aber zumindest einige davon wirkten recht überzeugend.
Und wer hat welches Totemtier?
Ich glaube Burton war eine Eule, Gas war diese Art kleiner, gemeiner Affe. Ich war ein Schwein- damit kann ich mich identifizieren, definitiv. Ich habe schweinische Züge zum Teil, viele sogar. Aber Schweine sind intelligente Tiere und sie sind auch nicht so schmutzig, wie viele Leute oft denken. Sie wälzen sich bloß gerne mal im Schlamm, das ist nicht so schlimm. Linde war eine Antilope oder so etwas in der Art. Er ist sehr agil und läuft immer im Kreis herum, wie ein kleines Reh. Das war die Idee. Ich weiß nicht, ob der Regisseur und Ville zusätzlich noch eine andere hatten.
Welches Totemtier hatte denn Ville, den hast du gar nicht genannt.
War das ein Bär? Oder nein, ein Wolf... (Er überlegt). Oder doch ein Bär? Es scheint im Video durch sein Gesicht... Mensch. Es war irgendwas seltsames, vielleicht ein Bär. Schau besser noch mal nach, man sieht es auf jeden Fall. (Anm.d.Red: Es ist tatsächlich ein Bär, vorher tauchen allerdings auch noch kurz ein Tiger und ein Widderschädel auf).
Und warum hat Gas einen Affen als Totemtier?
Er hat ein schelmisches, verschmitztes Naturell. Er ist so ein kleiner Teufel, ein Schlingel. Es passt einfach zu ihm. Ich finde es sehr interessant, darüber nachzudenken, was für ein Totemtier jemand hat. Es ist nicht immer offensichtlich. Man könnte zum Beispiel meinen, dass Gas ein Schwein haben würde, aber das habe dann letztendlich ich, falls du weißt, was ich meine- und er war der kleine Affe.
Ja, da muss man schon eine Weile drüber nachdenken und die eigene Kreativität spielen lassen. Meinst du, du kannst deine Kreativität vielleicht noch ein bisschen mehr strapazieren und eine Comic-Version von entweder dir oder der gesamten Band zeichnen?
Ja klar, warum nicht. Dann gib mal den Block her...Es ist schwierig, sich da etwas einfallen zu lassen... (Er beginnt, zu zeichnen).
Ihr habt jetzt für einen späteren Zeitpunkt noch eine umfassendere Europa-Tour in Planung?
Ja, das ist zumindest der Plan. Aber wir wissen bis jetzt noch nicht in welchem Ausmaß, ob da überhaupt Interesse da ist, wie das Album läuft und solche Dinge.
Naja, also Interesse dürfte ja wohl da sein, immerhin habt ihr die beiden jetzigen Shows komplett ausverkauft.
(Hochkonzentriert aufs Zeichnen und ohne den Blick vom Block abzuwenden) Ja, das stimmt, bisher war es toll.
Ihr habt jetzt ja mit dieser Tour in Australien angefangen. Was habt ihr da für Eindrücke bekommen?
Wir haben da auf diesem mobilen Festival gespielt. Es ist irgendwie seltsam, weil der Flug dahin so wahnsinnig lang ist, und die Zeitverschiebung ist wirklich entsetzlich. Es ist ein furchtbarer, furchtbarer Flug. (Er zeichnet weiter). Oh, ich fürchte das wird ein bisschen bizarr hier, ich glaube ich bekomme Fieber...
Oh, das tut mir leid.
Nein, nein, keine Sorge, mir tut´s leid, dass dein Comic etwas psychedelisch wird.
Das macht überhaupt nichts, wenn dir gerade psychedelisch zumute ist, ist das vollkommen in Ordnung. Würdest du denn sagen, dass es große Unterschiede im Publikum gibt was Mentalität und allgemeine Reaktion angeht, je nachdem, wo ihr spielt?
Ja, da gibt es auf jeden Fall Unterschiede, aber ich neige eigentlich dazu zu sagen, dass das egal ist. Das agilste, dynamischste Publikum ist nicht zwangsläufig auch immer das beste- manche Leute behaupten das ja, aber ich finde das nicht. Es kann genauso gut sein, dass die Leute da dann eigentlich überhaupt nicht zuhören, weil sie schon 17 Bier getrunken haben, durch die Gegend hüpfen und eigentlich gar nichts mitbekommen. Auch ein ruhiges Publikum, das einfach zuhört, ist sehr gut. Das hängt von vielen verschiedenen Dingen ab, auch davon, welcher Wochentag gerade ist- ob es unter der Woche ist oder meinetwegen ein Samstagabend. Gestern in Amsterdam zum Beispiel war es toll- es ist immer schön, im Paradiso zu spielen, weil es eine tolle Location ist. Eine alte Kirche. Geweihter Boden.
Cool, das stellt natürlich etwas da und passt auch zu euch. Viele Leute listen euch ja auch nach wie vor gerne unter Gothic Rock, auch wenn ihr da nur bedingt reinpasst.
Ja, wir haben schon starke Gothic-Einflüsse, auf jeden Fall.
Ich habe kurz vor der Album-Veröffentlichung mit Gas gesprochen und er schien sehr überrascht, dass nach wie vor viele Leute dieser Ansicht sind.
(Er muss lachen). Ach, der arme Gas. Er ist solch ein Metalhead, ich glaube manchmal bereitet ihm das etwas Sorgen...Ich meine, man kann nicht leugnen, dass wir keine Metalband sind. Wir sind schon eher eine Art Gothic-Rockband. Aber Gas ist so ein großer Metal-Fan, ich glaube er findet diese Tatsache manchmal etwas verstörend.
Oh, ich hatte nicht die Absicht, ihn zu traumatisieren.
Nee, natürlich nicht, das ist schon in Ordnung.
"Venus Doom" war ja deutlich mehr metal-lastig als das tendenziell eher poppige neue Album.
Ja, das neue Album ist irgendwie... naja, nicht direkt glücklich, aber es ist positiver und verbreitet eine positive Stimmung. Bei "Venus Doom" haben wir wohl gerade eine eher schwere Zeit in unserem Leben durchgemacht.
Wie passt denn der neue Albumtitel deiner Meinung nach in eurer bisheriges Yin Yang-Prinzip?
Hm... Da habe ich ehrlich gesagt noch gar nicht richtig drüber nachgedacht. Ich weiß es nicht. Vielleicht so was wie "Love and Screams", das sind ja meist schon zwei Gegensätze. Wenn es sich nicht gerade um orgasmische Schreie handelt... Was in diesem Fall wahrscheinlich sogar der Fall ist. Ich hoffe es zumindest... (Er beendet die Zeichnung.) So, ich bin fertig! Erkennst du ihn? Es ist Gas, ich habe extra noch den Drumstick dazugemalt, um sicherzugehen.
Mag der Lovecraft auch? (Anm.d.Red. Der in freier Anlehnung von Migé gezeichnete "mighty Cthulhu" ist einer der Götter im H.P.Lovecraft-Kosmos).
Du meinst Gas? Er ist nicht so die Leseratte.
Also würde er gar nicht wissen, was du da mit ihm angestellt hast?
Doch, ich denke schon, soweit müsste er das kennen...obwohl, vielleicht sollte ich nachfragen, er sollte das wissen... Doch, ich glaube schon, vielleicht von METALLICA, daher könnte er ihn kennen (Anm.d.Red. METALLICAs "The Call Of Ktulu" bezieht sich- trotz anderer Schreibweise- ebenfalls auf Lovecraft).
Weißt du, das sieht doch gut aus, da tun sich völlig neue Karriereoptionen auf!
(Er lacht). Irgendwann bringe ich dann eine Comic-Reihe heraus, "The Extraordinary Life of Gas Lipstick".
Genau! Aber jetzt steht ja erst mal noch die Musik an, also viel Glück für die Show nachher und danke für das Interview!