Review:

01011001

(AYREON)

TIPP
Er hat es tatsächlich wieder getan (in seiner ganz unnachahmlichen Art) und uns eine weitere dieser bombastisch produzierten Sci-Fi Space-Rockopern mit genreübergreifendem Mix sowie üppigen Klangfacetten und packenden Atmosphären zusammengebastelt: Die Rede kann eigentlich nur vom progenden Holländer Arjen Lucassen sein, der uns hier sein mittlerweile siebten Teil „01011001“ im Rahmen des AYREON Projekts in Form einer üppigen Doppel-CD präsentiert.

Und auch diesmal schafft er den schmalen Spagat, natürlich wieder mit der Unterstützung einer stattlichen Anzahl von Gastsängerinnen bzw. Vokalisten sowie diverser Instrumentalisten - ein opulent-sattes Werk, das sich ausdrucksstark um eine (zugegeben etwas sehr abgefahren und nicht ganz leicht zu verstehende) Konzeptgeschichte mit allen Höhen und Tiefen musikalischer Ausdrucksformen dreht, zu erschaffen ohne dabei zu überzeichnen. Lucassen spring dabei nicht (wie so mancher „Erstkontakter“ vermuten mag) auf den derzeit angesagten Konzeptstory- oder Rockoper-Trip auf, nein er spinnt schon seit 1995 um diese - oftmals recht mystisch-rätselhaften aber stets mit einem realitätsbezogenen Seitenhieb auf aktuelle Themen bestehenden - Storys sehr detailreich seine ausgetüftelten Klangwelten. Die musikalischen Gäste kommen seit jeher quer aus allen Bereichen des Rock und verkommen dabei nicht (wie zuletzt bei einigen sehr inhaltlosen „Projekten“) zur bloßen Aufmotzstaffage für billige Promozwecke bzw. zum reinen Booklettuning, weil’s gut aussieht. Hier steckt wirkliches Herzblut in jeder Note und im Arrangement, mittlerweile ist Lucassen’s Händchen (völlig zu Recht) für stimmige Kompositionen zu zementiert in der Szene, so dass die Auswahl hier mitmachen zu dürfen einem Ritterschlag gleicht. Jede Stimme (wenn auch so manche etwas kurz kommt) bekam ihren Part dazu quasi auf den Leib geschneidert. Wer die bisherigen Teile von AYREON mit den beiden absoluten Höhepunkten „Into the Electric Castle“ (1998) und „The Human Equitation“ (2004) gemocht hat, wird diese Scheibe lieben, denn auf „01011001“ werden die bisherigen typischen Trademarks weiter fortgesetzt und zusammen mit Elementen seines nicht ganz so harten STAR ONE Projektes kombiniert.

Mag die Story auch etwas hanebüchen klingen, der Sound ist erstklassig produziert, sehr dynamisch mit genügend Wucht, aber auch bei den fast folkigen Passagen sowie Balladen mit einigen echt klasse Duetten passt es einfach - die Songs kommen, ganz egal ob mal härter mit tiefen Growls oder mit engelsgleichem Gesang im Gothic Style, absolut einschmeichelnd und sehr hörerfreundlich mit glänzenden Harmonien daher.

Kurz zum Inhalt: Es geht um den Planeten „Y“ (CD 1), dessen Bewohner, die Wassergeschöpfe „Forever“, sich so degeneriert weiterentwickelt haben, dass man sich in totale Abhängigkeit von Maschinen manövriert und dabei völlig jede Emotionalität verloren hat. Mittels eines Kometen versucht man nun die eigene DNA (01011101 ist der binäre Code für den Buchstaben Y) auf die Erde zu schicken um die Rasse dort neu wiederzubeleben. Als der Komet einschlägt (CD2 „Earth“) werden zunächst aber die Dinosaurier ausgerottet, aber daraus quasi die Menschen geschaffen. Jetzt hat man zwar wieder die Gefühle zurückentwickelt, will allerdings nun die vielen menschlichen Schwachstellen per beschleunigter Evolution beseitigen. Das Dilemma scheint sich zu wiederholen, die Menschheit gerät zunehmend in ähnliche Abhängigkeiten von Technologie wie ihre „Erfinder“ und die Emotionen gehen den Bach runter – ein tragischer Kreislauf bis zur scheinbar nicht aufzuhaltenden Selbstzerstörung.

Doch nun genug der zeitnahen Gesellschaftskritik (zum Glück ohne den erhobenen Zeigefinger), die Musik macht den Ton oder so ähnlich. Und die ist wirklich klasse geworden, die erste Seite ist stellenweise ungewöhnlich düster-deftig und ja beinahe depressiv (Mastermind Lucassen musste seine Scheidung sowie den Auszug aus seinem geliebten Electric Castle Studio verarbeiten), mit industrialartigen Sounds wird hier die Maschinenherrschaft bestens untermalt. Aber dann folgt auf der zweiten CD eine stilistische Wandlung mit vielen Folkelementen, Cello, Streichern, Querflöte und dann fesselnd hymnischen Chorarrangements, die einen eine Gänsehaut verpassen. Mit persönlich gefällt diese Seite etwas besser, obwohl hier die Herren einen etwas dominanteren Part ausfüllen. Überhaupt sind mir da besonders positiv Hansi KÜRSCH (BLIND GUARDIAN), Altmeister Bob CATLEY (MAGNUM) sowie GOTTHARD Frontröhre Steve LEE aufgefallen: Was die hier abliefern ist einfach bravourös. Klar, auch Ich-sing-überall-mit-was nicht bei-drei-die-Studiotür-verrammelt-hat Jorn LANDE hat seine Reibeisenstimme perfekt im Einsatz. Die vielen ähnlich klingenden Gothic Goldkehlchen auf der ersten Seite sind mir (ohne das sie jetzt etwa schlecht sängen) allerdings doch etwas zu gleichgeschaltet, da finden sich kaum heraushörbare eigene Klangmuster. Eines der Highlights folgt dann mit „Liquid Eternity": Die melancholischen Parts von Jonas RENSKE und Daniel GILDENLÖW bilden den Kontrast für Magali LUYTEN (Virus IV) die mit fettem Refrain im STAR ONE Gedächtnis-Style den Song erst so richtig krachen lässt. Genau dieses Vibrato von Rockröhre Magali lässt auch „Ride The Comet“ zu etwas Besonderem werden, da können die Mädels auch ein paar Punkte gegen ihre männlichen Widerparts gutmachen. Eine weitere Ausnahme ist auch noch die großartige Anneke van Giersbergen (ex-THE GATHERING) die u.a. auf dem verschrobenen "Comatose" zusammen mit Lande ein Hammerduett abliefert. Einigen Gastsängern bleiben nur relativ kurze Stippvisiten u.a. auch Gildenlöw – 17 Stimmen auf knapp 100 Minuten war wohl doch etwas zu viel des Guten. Großartige Solos an der Gitarre (wunderbar floydig), sowie schöne fette Chöre mit Hansi gibt es auf „Beneath the Waves“. Rein mit akustischer Gitarre sowie Streichern vorgetragen von Simone SIMONS (EPICA) und Phideaux Xavier beendet das sehr ruhig-verträumte "Web Of Lies" die erste CD.

Der Opener zum zweiten Teil „The Fifth Extinction" markiert den Aufprall des Kometen auf der Erde, hier singen Bob und Hansi in bestem Wechselgesang, schöne Chöre und dann die harten Riffs begleitet vom Streitgespräch zwischen Tom S. Englund (EVERGREY) und Jorn, an den Keys liefert Derek Sherinian (ex- DREAM THEATER) ein abgefahrenes Solo ab. Mein Lieblingstrack ist aber ganz klar das 70er Jahre inspirierte „Walking Dream“ mit „Child In Time“-Gedächtnis-Hammondsound, dem endgeilen Gitarrensolo sowie dem coolen Wechselgesang zwischen der charismatischen Stimme von Jonas Renske (KATATONIA) sowie erneut Anneke. „The Truth Is In Here“ hört sich an wie ein Mittelalter Folk Song von BLACKMORES’ NIGHT, auch hier singt Lucassen sehr passabel selbst. Dann folgt mit „River of Time“ erneut ein sehr folklastiger Song, wie gemacht für Kürsch. Die packenden Violinen- und Flötenarrangements sind allererste Sahne. Zwei relativ unbekannte Stimmen dürfen „E=mc²“ veredeln: Wudstick und Marjan WEEMAN geben dabei eine überzeugende Vorstellung und Michael ROMEO (SYMPHONY X) darf einmal mehr zeigen, dass er ein mehr als passabler Gitarrenspieler ist. Dann folgt das finale "The Sixth Exctintion" mit hochdramatischem Beginn, düsteren Zwischenteil und nochmal allen Hauptstimmen zum glorreichen Schluss auch des inhaltlichen Kontextes, die Welt geht mit fliehenden Fahnen ihrem Ende entgegen – Rums und das Tor geht zu!

Wer AYREON bisher schon mochte bekommt hier erneut ganz großer Bombast-Kino, ob jetzt großartig Progressiv im engeren Sinne sei mal dahingestellt, aber dieser Musiker kann nichts verkehrt machen. Sicher, der ein oder andere Song mag etwas subtil erscheinen, aber das Gesamtbild passt. Neben dem (fast) perfektem Songwriting (die einfachen Texte und einige Wiederholungen lassen wir mal außen vor), singt Arjen erstaunliche viel Parts selbst mit, wummern wuchtig seine geliebten Hammonds. Synthies, egal ob analog oder digital kommen perfekt volumig aus den Boxen, die Gastsolos der Gitarristen sind hammermäßig und insbesondere (Dauer-) Drummer Ed WARBY verdient sich für sein abwechslungsreiches Spiel ein Sonderlob. Egal ob stampfende Rhythmik, heavy Gitarren, exzellente Gesangseinlangen, halb-akkustische Instrumentalpassagen, balladesk-folkige Elemente: Arjen mixt alles perfekt zusammen. Ist zwar für Fans nicht so großartig „neu“ aber er schafft erneut ein stimmiges Gesamtkunstwerk (inkl. superbem Coverartwork) mit wunderbaren Melodien voller Energie und tiefreifenden Melancholie ohne aufgesetzt zu kitschig wirkendem Weltschmerz. In diese Musik kann man einfach wunderbar hineintauchen durch diese unendlichen Klangwelten in Sachen Progressive Space Metal mit symphonischen Rock und Folk Elementen – ganz klar, hier hat Arjen Lucassen erneut seine einsame Spitzenstellung als virtuoser Musikschaffender unter Beweis gestellt und mit „01011001“ bereits Anfang des Jahres den Genrehammer schlechthin abgeliefert, dies wird wohl nur schwer zu toppen sein. Im Backkatalog von AYREON sicher nicht das beste aber immer noch ein sehr gutes Album.
Mensch, und ich wollt mich diesmal kürzer halten mit dem Review – sorry ging einfach nicht.

Das Album erscheint als „normale“ Doppel-CD, als Special Edition in einer Box mit 28-seitigem Booklet und Bonus-DVD. Zusätzlich gibt es für die Die Hard-Fans eine Limited Deluxe Edition in einem faltbaren Digipack und Schuber mit 36-seitigem Booklet und Bonus-DVD.

01011001


Cover - 01011001 Band:

AYREON


Genre: Progressive
Tracks: 15
Länge: 102:21 ()
Label: InsideOut
Vertrieb: SPV