Wave-Gotik-Treffen 2012 - Samstag

SECRET DISCOVERY
Die Brüder Hoffmann aus Bochum spielen hier gegen die Sonne, sind aber so motiviert und freuen sich auf das Publikum, dass sie den Set ohne Sonnenbrille durchziehen. Kai (das ist der am Gesang), Falk an der Gitarre und ihre Mitstreiter sind sehr gut in Form und haben sich kaum verändert – na, wenn man von ihren ziemlich großen Kindern absieht, die sich am Bühnenrand tummeln und die Band per Kamera festhalten. „Das ist unser Original-Gitarrist, den wir extra aus Norwegen zurückgeholt haben, wo er jetzt lebt“, kündigt Kai den Mann an der zweiten Gitarre an. Ich erkenne nur Songs von den ersten drei Alben, darunter „Another Life“, „Execution Day“, „Flower In The Dust“, „Into The Void“ und als Abschluß „Hello Goodbye“ sogar mit einem Gastsänger. Was für eine Reise in die frühen Neunziger! Trotzdem hätten SECRET DISCOVERY mehr Hits auf der Liste haben können. Aber, wir wollen an diesem sonnigen, frühen Nachmittag nicht meckern: SECRET DISCOVERY können es definitiv noch, und wenn sie das nächste Mal in der Stadt sind, unbedingt anschauen – dann kann man auch auf mehr Hits (zum Beispiel vom Album „The Final Chapter“) hoffen!
Auf THE DANSE SOCIETY war ich vor allem deswegen gespannt, weil die mir so gar nichts sagten. Vor 25 Jahren hatte die Band das letzte Mal auf der Bühne gestanden, konnte man aus den Ansagen der Sängerin entnehmen. Dazwischen hatten sie sich wohl keine aktuellen Bühnenklamotten gekauft, besonders ästhetisch waren THE DANSE SOCIETY eine Herausforderung. Nicht nur die Lederhose des Gitarristen war gewagt, auch der rote Minirock der Sängerin war „mutig“. „Hey. Das ist unsere Zukunft!“ antwortete eine Zuschauerin vor uns auf den laut gedachten Gedanken, „oder meine Gegenwart.“ Nein, keine Angst. Das kleine, alte Persönchen am Mikro wirkte, als hätte sie Sex mit dem Mikrofon und reduzierte sich sonst selbst auf Strapse und Brüste. Zwar hatte sie eine beeindruckende Stimme, aber die Musik von TDS war eher langsamer Gitarren-Gruft – und über die Strecke erschöpfte sich auch das Timbre in der gleichbleibenden Oktave. Möchte noch jemand was essen?!
Die Italiener von DOPE STARS INC. haben ein Hühnchen mit der deutschen Bürokratie zu rupfen: „Wir haben euch extra vor dem Festival viele Videos auf Youtube hochgeladen, damit ihr unsere neuen Songs schon vor dem Auftritt kennenlernen könnt, und dann kommen wir hier her, und alle sind mit dem Hinweis auf die GEMA gesperrt!“ In der Original-Ansage waren die Worte „Fucking, fucking, fucking“ und „Fuck“ in unterschiedlicher Lautstärke eingebaut, und die Ansage wurde im entsprechenden italienischen Temperament vorgetragen. Damit die Fans die neuen Songs doch noch kennenlernen, musste dann live halt doppelt so viel gearbeitet werden, die DOPE STARS sind abgegangen wie die Sau auf der Bühne. Das heißt, nur die eine Hälfte: Sänger und Gitarrist haben vor Spielfreude durchgedreht, während der Bassist die erstaunliche Begabung besitzt, exakt einen Gesichtsausdruck zur Schau zu tragen. Die Gesichtszüge entgleiten ihm nur, wenn auch er mal eine Ansage macht. Faszinierend, Mr. Spock! Nicht nur wegen ihrer offenen Worte wurden die Italiener bei super Stimmung, super Sound und super Sonne super abgefeiert.
Kommen wir von dieser im mehrfachen Wortsinne aktiven Band zu den DREADFUL SHADOWS. Ziehen die Berliner ihre Reunion nun durch? Sind sie nur „for the money“ noch zusammen auf der Bühne? Nach dem drölften Auftritt seit ihrem Split 2000 und dem als „einmalig“ angekündigten Reunion-Konzerten von 2007 kam im Vorfeld des WGT jetzt endlich die erlösende Pressemitteilung, dass die DREADFUL SHADOWS auch wieder ein neues Album zusammen schreiben werden. Die Welt ist definitiv ärmer ohne die DREADFUL SHADOWS! Diese Stimme! Oder besser: Diese Stimmen! Außer Sven Friedrich steht da noch ein weibliches, singendes Wesen auf der Bühne, die das ihre zum gelungenen Gig beitrug. Aber leider kristallisierte sich auch heraus, dass die Band, die zusammen so toll Musik macht, im Umgang miteinander fremdelt. Jeder ist in seiner eigenen Welt auf der Bühne, es gibt kaum bemerkbaren Augenkontakt, selbst den Applaus nimmt jeder für sich. Und davon gab es immerhin ganz verdient reichlich.
In der AGRA spielten fast zeitgleich AESTHETIC PERFECTION, die einen Vorgeschmack darauf geben sollten, was COMBICHRIST nachher abfeiern wollen. Sänger Daniel Graves hatte zwei Schichten einer Latex-Maske über dem Gesicht, von der er sich den ersten Teil während des ersten Songs abriss und den zweiten Teil bei den folgenden Songs absurd dehnte - sehr passend zu seiner eher psychotischen Stimme. Dazu scheuchte er wie ein Derwisch über die Bühne, angetrieben von dem Schlagzeug, dass effektvoll am Bühnenrand, aber quer zur Bühne stand. Vom Band läuft dazu Uptempo-Elektro – bisher meine Entdeckung des Festivals!
Heute gilt genau wie gestern, dass das Gras auf der Wiese des Nachbarn grüner ist als auf der eigenen. Mit dem einen oder anderen Tropfen Herzblut haben wir wegen Überschneidungen verpaßt: SECRETS OF THE MOON, AMORPHIS, QNTAL, die zweite Show von WARDRUNA (heute im Centraltheater) und UNTO ASHES. Am Unterhaltsamsten von allen sollen allerdings – wie bereits im Vorfeld vermutet – COMBICHRIST in der Agra gewesen sein - zu denen hatten wir es nach der letzten Zugabe der DREADFUL SHADOWS aber nicht mehr geschafft...