Wave-Gotik-Treffen 2011 - Freitag

Was macht man nur mit so einem angefangenen Tag, an dem man trotz Kaffee den Kopf schon unter dem Arm trägt, obwohl das offizielle Festival gerade erst anfängt? "Wir gehen denn mal NPD-Stände angucken," sagten unsere Begleiter. Aber die Messestände in der Agra-Halle 1 hatten in diesem Jahr deutlich abgerüstet, selbst am Stand eines einschlägig bekannten Verlages hätte man einen Blick in den Katalog oder auf den Online-Shop werfen müssen, um verfassungsfeindliche Symbole, rechte Musik oder verschwörungstheoretische Bücher finden zu können. Zum Shoppen (in diesem Jahr der absolute Schrei: falsche Wimpern, die das Augenlid zum Gewichtheber machen oder Hörnchen zum Aufsetzen in allen möglichen Formen, Farben und Größen) war es uns noch zu früh.
Also ab in die Sonne, dem Treiben auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten zugucken. Die Meile zwischen Agra-Hallen und Campingplatz hat sich zum Catwalk der Modegruftis entwickelt. Noch vor dem Einlaß stehen spannernde Rentner und geifern in ihr Objektiv – jeder darf sich hier seine persönliche Wichsvorlage schießen, vom Amateur bis zum BILD-Reporter. Auf dem Gelände laufen die besonders aufgestylten Hobby-Fotomodelle dann zur ganzen Form auf. Freitag ist der hohe Feiertag des perfekten Outfits: Die Profis kommen bereits am Donnerstag wie aus dem Ei gepellt am Festivalgelände an, am Freitag ist jeder Gote, der was auf sich hält, gestylt als ob es kein Morgen gäbe – aber spätestens ab Sonntag beginnt der Verfall und Montag ist das Aussehen ganz egal. Wenn es regnet, geht der Verfall sogar noch schneller von statten. Während wir noch über Netzoberteile an nicht mehr ganz schlanken Oberkörpern lachen, spielt auf einer Bühne in einem anderen Stadtviertel SARAH JEZEBEL DEVA. Shit happens.
Das Bild vor der Agra ändert sich schlagartig, als die Teilnehmer am diesjährigen "Viktorianischen Picknick" eintreffen. Die überwiegende Masse von denen ist als "Steampunks" unterwegs. Böse Zungen behaupten, Steampunk sei, wenn ein Gruftie versuche, Sepia-Fotos nachzustellen. Die Steampunks scheinen von H.G.Wells und Jules Verne beeinflusst, als große Entdecker haben die geschicktesten tausend kleine Kleinigkeiten an ihren Outfits versteckt. Eine Gesprächspartnerin erklärte uns spät am Abend, wie viele hundert Stunden sie in ihr Kleid gesteckt hatte – und dass die witzigsten Accessoires nicht von Märkten, sondern von Ebay kämen. Ein spitzes Stichwort, denn im Verlauf der Messe konnte man sogar ganze "Steampunk"-Outfits bei x-tra-x kaufen. Was hat das noch mit "Entdecken" zu tun?
Dafür spielen in der agra 18 SUMMERS die besten Songs von SILKE BISCHOFF und die Norweger von GOTHMINISTER fahren eine fette Show auf – mit Pyros, Projektionen und einem Stelzenläufer als Riesen-Teufel. Sänger Bjørn Alexander Brem predigte in seiner beeindruckenden Bariton-Stimme von einer Kanzel an das tanzende Volk – die Band aus Oslo waren das erste Show-Highlight des Festivals.
UMBRA ET IMAGO dagegen haben showtechnisch umgestellt. Statt umfangreicher Ü-18-Erotikshow hat die Band aus Karlsruhe und Umgebung nur noch zwei Erotik-Tänzerinnen dabei, die auch nur noch bei einem oder zwei Songs zum Zuge kommen. Stattdessen wird gerockt und eine große Kostümshow betrieben. Komische Entwicklung – die Band wird dadurch zwar skandal-technisch "uninteressanter" - aber durchaus guckbarer und weniger vorhersehbar.
Bei COVENANT platzte die Agra aus allen Nähten, ein Einlassstopp wurde verhängt und wir hätten Mühe gehabt, nach unserer Zwischenmahlzeit am "Dresdner Handbrot"-Stand noch einmal reinzukommen. Nein, da sind wir lieber weiter zum "Mittelalterlichen Markt an der Moritzbastei". Warum der "Mittelaltermarkt" und das "Heididorf" (mehr darüber morgen) zwei verschiedene Veranstaltung sein müssen, weiß nur noch der Veranstalter, man munkelt, irgendjemand hätte sich mit jemand anderem zerstritten. Trotzdem werden beide im Programm unter der Überschrift "Celebrant" im selben Aufwasch angekündigt. Das Heididorf liegt am historischen Torhaus Dölitz auf der Rückseite des Campingplatzes, der kleine Haufen Händler drängelt sich an der Moritzbastei und entzerrt damit das Gedränge an ersterer ein bisschen. Aber bevor wir die Feuershow genießen können, müssen unsere Lachmuskeln noch NACHTWINDHEIM ertragen. Denn diese (un)heimliche Musik-Comedy-Gruppe aus Sachsen spielt Rock-Klassiker von "Dschingis Khan" bis "Paranoid" auf Schalmeien und Dudelsäcken nach. Die vier Herren sind dabei gewandet wie der Ärmste und einkommensloseste unter den Gauklern und Musikmachern – und rocken den Platz! Spätestens nach ihrer A-Capella-Interpretation der Geschichte von Hänsel und Gretel können die Lachmuskeln nicht mehr. Und Erziehungsberechtigte bekommen komische Fragen von ihren Gören!
DEINE LAKAIEN
Genug gelacht, zurück in die Agra. Dort zelebrieren das berühmteste Vogelnest Deutschlands und das musikalische Genie Ernst Horn die Traurigkeit. Diese beiden zusammen sind DEINE LAKAIEN und werden durch eine großartige Violinistin und den ebenso großartigen Cellisten B. Deutung (einigen älteren noch von seiner eigenen Band, den INCHTABOKATABLES bekannt) begleitet. Apropos Ernst Horn, der spielt auf einem echten Flügel – wie sie das Ding auf diese Bühne bekommen haben, bleibt das Geheimnis der lokalen Crew. Und während Alexander Veljanov die tiefsten Leiden seines Baritons auslotet, tanzen die Grufties dazu eurythmisch den Eiffelturm. Bevor ich weiter lästere, geh ich ins Bett – letztendlich ist das WGT ja genau das Festival für Leute, die so sein dürfen, wie sie sind und sein wollen. Also auch: Entrückt in Traurigkeit.
Das WGT ist ein Festival in der Stadt – die Fledermäuse verteilen sich über das gesamte Areal von ganz im Norden und Westen bis zum Stadtkern und den Schwerpunkten an der Alten Messe und der ehemaligen Agrar-Ausstellungsfläche agra. Zu normalen Zeiten müsste man zweimal blöd in der Straßenbahn umsteigen, um von der Agra zur Alten Messe zu kommen. In diesem Jahr hatten die Leipziger Verkehrsbetriebe extra die "Linie 31 WGT" eingerichtet – blöd nur, dass uns das erst aufgefallen ist, nachdem wir VREID, TRISTANIA und ANATHEMA verpasst hatten. Zumindest TRISTANIA sollen sowohl mit der Form ihrer Sängerin als auch mit dem Sound zu kämpfen gehabt haben, hieß es anschließend...