Interview:

2003-10-21 Life Of Agony

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... oder wie der große Geist unser aller Lieblings-NYHC-Band in die nächste Runde schickte. Natürlich ist das rumgesponnen, wie vieles in dem - vor allem zwischen den Zeilen aufschlussreichen - Gespräch, das ich mit dem Bonsai-Sanges-Wunder Keith Caputo führen durfte. Dabei schien vorher gar nicht sicher, ob das Interview zustande kommt, denn während Alan, Joe und Sal sich fleißig über die Reunion den Mund fusselig reden, ging Keith bisher weniger ans Telefon, sondern stattdessen lieber mit seinem Solo-Projekt auf Deutschlandtour. Auf der scheint die Sonne, reden wir also erst darüber. Mikrofon auf:InterviewDu scheinst momentan ganz erfolgreich zu sein. Du hast kein offizielles
Album draußen, tourst also das dritte Mal mit dem selben Tonträger durch
Deutschland, und trotzdem sind die Säle ausverkauft oder müssen in
größere umgebucht werden.



Sehr erfolgreich


Und? Magst Du deine Situation?


Sehr sogar.


Zwei Fragen, acht Silben (im englischen) Antwort. Dazu setzt KEITH
CAPUTO ein gleichzeitig weises wie hintergründiges Grinsen auf. So, so.
Wann kommt denn dann ein neues Album raus?


Oh, ich habe "Perfect Little Monsters" neulich erst herausgebracht, acht
Songs, voller intimer, warmer Musik.


Ja, und wann kann man die kaufen?


Ich habe im Moment keinen Plattenvertrag, ich verkaufe die auf meinen
Konzerten, und via Internet.


Also (um auch zum Thema unseres Interviews zu kommen), befassen sich
deine Zukunftspläne eher mit LIFE OF AGONY?


Das (verneinende?) "Beides", kommt wie aus der Pistole
geschossen:


Ich will versuchen, alles zu umfassen was ich irgendwie kann - ohne zu
kollabieren.


Ich dachte, die Zeiten sind vorbei. Heute wirkst Du hier gerade
ziemlich, na ja, kräftig... (Tut er wirklich, Keith Caputo hat Farbe im
Gesicht und einen entspannten Zug um Mund und Augen, obwohl er eben erst
erzählte, dass er in der Nacht nur 4 Stunden geschlafen hatte)


Kräftig?! Natürlich, ich bin sehr stark!


Der Zug um die Augen wird ironisch.
Dafür lebst Du jetzt beide Seiten deines musikalischen Ichs aus,
Aggression und Harmonie.


Nettes Wort dafür...


Ja und?! Kann man das so sagen?! Tust Du das?


Of course!


Pause. Irritierte Blicke hin und her. Vielleicht kommt ja später mehr
dazu, warum sich Life Of Agony und Keith Caputo anhören wie zwei
himmelweit voneinander entfernte Geschichten... Lebst du immer noch in
Europa oder bist Du nach Amerika zurückgekehrt?


Ich lebe in einem Ort, etwa zehn Minuten von Amsterdam entfernt, und ich
wohne auch in New York.


Also bist du nach New York zurückgekommen? (Get Back To "New York
City", Refrain der gleichnamigen Solo-Single)


Ja, ich bin wieder nach New York zurückgekehrt. (Zitiert deutlich seinen
eigenen Refrain.) Weißt Du was?! In diesem Club hier habe ich mal Mazzy
Star gesehen, schon länger her. Weißt Du wer Mazzy Star ist?!


Nö, woher?!


Die sollte man kennen! Das ist wunderschöne Musik!


Na gut, dann hör ich sie mir mal an. Eigentlich wollte ich ein
bisschen mehr über die Umstände wissen, unter denen ihr mit Life Of
Agony wieder zusammen gekommen seid...


Bis das so passieren konnte, sind Jahre vergangen. Mit Diskussionen,
Diskussionen, Diskussionen. Und am Ende hatten wir alle die Zeit, es
jetzt zu tun.


Also hattet ihr alle doch über die Jahre Kontakt miteinander?


Ziemlich viel sogar, besonders Joey und ich. Schließlich sind wir
Cousins.


Und die anderen?!


Nicht so sehr.


Und wie kam es nun, dass ihr ausgerechnet im letzten Winter wieder
zusammengefunden seid?


Weiß ich nicht. Warum scheint heute so schön die Sonne? Dasselbe
Mysterium.


Naja, aber das würde dir ein Meterologe erklären können...


Aber ich bin kein Wissenschafter, ich bin Spiritualist. Der große Geist
hat uns wieder zusammengeführt für einen weiteren Lauf. Darauf folgt
eine Exkursion über ständiges Wachstum und konstante Vorwärtsbewegung.
Schwurbeln wir uns zurück in die Gegenwart:


Was magst du heute am Leben in New York?

Das Nightlife.


Ich hatte gehört, dass sich New York eigentlich auch schon vor 9/11
viel geändert hatte, besonders im Nightlife. Ich habe gehört, dass unter
Guliani schon viele Clubs und Kneipen unter so seltsamen Vorwänden wie
einer Tanzlizenz dichtmachen mussten.


Es ist immer noch leicht, in New York Drogen zu bekommen. Dabei machen
die ganzen Razzien keinen Sinn, denn ich befürchte, dass gerade die
Leute an der Macht eine Menge Drogen fahrlässig oder wegen Geld ins Land
reinlassen.


Das meinte ich jetzt nicht. Ich meinte das Clubsterben in NYC.


Oh, da weiß ich nichts drüber, ich gehe nicht auf Parties oder in Clubs,
wenn ich nicht gerade selbst in einem spiele. Ich gehe lieber tagsüber
in Museen oder Kunsthallen.


Warum findest Du dann das Nachtleben von NY so toll, wenn Du selbst
gar nichts davon hast?


Man muss nicht groß auf Parties gehen, um ein Teil des Nachtlebens zu
sein. Die Straßen sind voll von bezaubernden Leuten. Wie Amsterdam. Die
Welt existiert zusammengepfercht in dieser Stadt, wie unter einem
Mikroskop. Es ist wunderschön. Selbst am Tage. Ich werde dich jetzt mit
dem Nachtleben aufziehen, du hast meinen Humor nicht verstanden.


Hast du schon mal Museen außerhalb von Amsterdam in Europa besucht?


Ich würde mir gern mehr Kunst in der ganzen Welt angucken, aber auf Tour
habe ich keine Zeit, also gehe ich meistens nur in Amsterdam und New
York in Galerien.


Was guckst du dir denn dann an? Moderne Kunst, oder historische
Schinken?


Beides. Warhol, Dalí, Van Gogh, oder Rembrandt zum Beispiel. Ich lerne
gern jeden Tag etwas neues über Kunst.


Hat sich das Leben in Holland in den letzten Jahren auch verändert?


Genau, nachdem dieser Politiker erschossen wurde, wie hieß er noch mal,
Pim
Fortuyn. Es ist immer noch spannend. Ich lebe nicht mehr in Amsterdam
direkt, aber das Leben dort hat sich höchstens in Nuancen verändert.
Amsterdam macht immer noch dieselben Dinge wie vor fünf Jahren. Man kann
immer noch Absinth bestellen, es gibt immer noch an jeder Straßenecke
Drogen und an jeder zweiten einen legalen Coffeeshop, es gibt immer noch
die Prostitution, und ich bin froh, dass es das alles in Amsterdam gibt.
So sollte es eignetlich in jeder Stadt sein. Ich denke, dann würde es
weit weniger Gewaltverbrechen geben. Da ist eine so dicht bevölkerte
Stadt wie Amsterdam, und ausgerechnet Farraddiebstahl ist das häufigste
Verbrechen, ich finde das erstaunlich. In New York dagegen werden
täglich Leute erschossen, und kiffen ist verboten, selbst das Rauchen in
Kneipen ist verboten. Das macht die Leute mürbe. Man kann den Leuten
nicht das Leben bis ins Detail regeln, die tun eh, was sie wollen.
Menschen kann man nicht kontrollieren, ebenso wenig wie man die Natur
kontrollieren kann.


Also findest du Amsterdam vergleichsweise erstaunlich friedlich.


Das würde ich nicht sagen. Ich weiß auch nicht, ob ich gern noch mal in
der Stadt wohnen würde, aber ich will eben nahe bei der Stadt wohnen.
Eigentlich ist es nicht friedlich, sondern chaotisch. Aber es gibt
trotzdem eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl, und die notorischen
Waffenliebhaber liegen bekifft in der Ecke.


Wie würdest du das beschreiben: Was bringt dich dazu, einen Song für
dein Soloprojekt zu schreiben, und was inspiriert dich zu einem
LOA-Song?


Das Leben an sich. Das ist meine Religion. Das Schreiben, der kreative
Ausdruck, der Prozess, in dem Musik entsteht, das ist mein Antrieb und
meine Religion. Hinter die Dinge schauen und etwas dabei hervorholen,
bei dem sich die Leute gut oder schlecht fühlen können.


Ist es dir egal, unter welchem Label es am Ende dann an die
Öffentlichkeit kommt?


Das habe ich nicht gesagt. Es macht einen großen Unterschied, wer alles
hinter einer Platte - oder welcher Art von Veröffentlichung steckt.
Natürlich ist es mir nicht egal.


Hat es denn Spaß gemacht, mal wieder mit den anderen
zusammenzuarbeiten?


Mit wem?


Mit den Heinzelmännchen! Nein, natürlich Joey Z., Alan Robert und Sal
Abruscato!


Manchmal... Es gibt gutes und schlechtes. Natürlich die Zeit, die wir
miteinander verbracht hatten. Letztendlich ist es ein Geben und Nehmen
wie in jeder Beziehung.


Soso. Es ist also "Warm Inside A Crucifix" (Zeile aus einem anderen
Keith-Solo-Song)?


Nein, das genau ist Sarkasmus. Du hast meinen Humor nicht verstanden. In
der Zeile danach singe ich "Narrow flow, shame on you you bitch", das
soll bedeuten, dass diese fixe Idee von einem Gott eine politisch total
abgekartete Sache ist.
Sich auf so etwas zu verlassen anstelle auf sein eigenes Ich zu
vertrauen ist ziemlich künstlich, ziemlich oberflächlich.


Du bist in einer sehr katholischen Gegend aufgewachsen, oder?!


Ja. Aber vom ersten Tag an habe ich nicht daran geglaubt.


Aber trotzdem bist du sicher immer wieder sonntags in die Kirche
geschickt worden, oder?!


Ja. Aber ich habe das niemals für wörtlich genommen. Ich wusste schon
früh, dass da mehr zu gehört als nur ein herumziehender Hippie, der
gekreuzigt wurde. Im Buddhismus heißt es dagegen, Gott sei im Inneren.
Kein menschliches Wesen muss in der Welt herumsuchen, um Gott zu finden.
Das Königreich ist in einem drin.


Hast Du viel über Buddhismus gelesen?


Ja, mehr als über Katholizismus. Ich lese viel über Sufismus und
Hinduismus. Einer meiner Lieblingsdichter ist Rumi, ein türkischer
Dichter. Kennst Du Rumi?


Ja. (Mevlana Celaleddin Rumi lebte im 12. Jahrhundert unserer
Zeitrechnung zwischen dem heutigen Zentralasien und der heutigen Türkei
und ist als der Begründer des Sufismus und damit auch der Derwisch-Orden
bekannt, die tanzenden Derwische aus dem letzten Türkei-Urlaub sind
dabei aber nur die touristisch aufgearbeiteten Überbleibsel.) Aber
"Dichter" wäre die letzte Bezeichnung, die ich ihm geben würde...


Ich liebe Rumi. Vielleicht ist Rumi so etwas wie mein Gott. Seine Worte,
seine Sprache: Für mich lag Gott auf seiner Zunge. Die Geheimnisse des
Universums existierten in seinen Worten. Ich würde ihn nicht mehr einen
Menschen nennen, er stand darüber.


Man kann Rumi auch kontroverser sehen...


Ich weiß. Deshalb liebe ich ihn. Ich finde ihn einfach wunderbar und
könnte weinen, wenn ich seine Gedichte lese. Und ich lese eine Menge von
Rumi.


Willkommen zurück aus dem Parforceritt durch 800 Jahre Kultur, liebe
Leser. An harten Fakten hat sich immerhin so viel herauskristallisiert,
dass LIFE OF AGONY in den nächsten Wochen Deutschland betouren werden.
Keith ist fit an Stimme und Körper - jedenfalls soweit man das von außen
beurteilen kann - es versprechen also geniale Konzerte zu werden.
Außerdem munkelte man am Rande, dass LOA planen, danach ein neues Album
zusammen aufzunehmen. Auch wenn wahrscheinlich der Umstand, dass
inzwischen keins der Soloprojekte mehr einen Plattenvertrag hat (KEITH
CAPUTO, Alan Roberts SUPERMASSIV oder Sal Abruscatos AMONG THIEVES),
diese Entscheidung beschleunigt haben könnte... Wir werden es sehen.