Interview:

2004-11-07 Honigdieb

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Sir Hannes Smith prägte die deutsche Punk- und Rock-Geschichte wie nur wenige andere deutsche Musiker. Bereits 1978 gründete er die Punk-Band THE IDIOTS, in den 80ern die PHANTOMS OF FUTURE, die Crossover vorwegnahmen. "Crossover" beschreibt im Grunde auch die Musik seines Projektes HONIGDIEB, an dem er nach dem Split der PHANTOMS zu arbeiten begann. Im Falle von HONIGDIEB muss man diesen Begriff aber absolut wörtlich nehmen, denn Sir Hannes treibt ihn bis ins Extrem, indem er unterschiedliche und scheinbar unvereinbare Musikstile verbindet, wie Punkrock, Metal, Pop, Chanson, Ska und Polka. Hinzu kommt eine alles andere als alltägliche Instrumentierung: E-Gitarre und Schlagzeug treffen auf Kontrabass, Geige und Querflöte. Sir Hannes gelingt es erstaunlicherweise, aus dieser wilden Mischung einen völlig homogenen, eigenen Sound entstehen zu lassen und versorgt den Zuhörer dazu noch mit diversen Ohrwürmern sowie deutschen Texten, die randvoll sind mit Witz und skurriler Poesie. Die Live-Auftritte des Dortmunders sind faszinierende, energiegeladene Spektakel, bei denen Musik und Performance ineinander übergehen und im Zusammenspiel eine alles und jeden mitreißende Dynamik entwickeln. Anlässlich des eben erschienenen zweiten Albums "Einzig, Aber Nicht Artig" befragten wir Sir Hannes zur neuen Scheibe und seinen erstaunlichen Lebensweg:InterviewWoher stammt eigentlich Dein Adelstitel?


Meine Urverwandten entstammen dem Fürstentum. Ich selber gebe nichts um solche Titel, aber in
Verbindung mit meiner Person hat der Titel schon eine gewisse Klasse und Ironie.


Du hast schon mit vielen großen Bands auf der Bühne gestanden, u. a. mit den SEX PISTOLS, den SISTERS OF MERCY, CYPRESS HILL, den FANTASTISCHEN VIER und natürlich Iggy Pop. Trotzdem scheinst Du ziemlich auf dem Boden geblieben zu sein. Bestand bei Dir nie die Gefahr des Größenwahnsinns?


Nein, ich liebe Bescheidenheit. In meinem bisherigen Leben ist mir aufgefallen, dass die wirklich großen Künstler sehr bescheiden sind. Die Kollegen mit dem Größenwahn sind meistens die Sternchen und Eintagsfliegen, die dann schnell wieder im Mittelmaß verblassen.


Deine Live-Auftritte sind mehr als reine Konzerte. Sie sind Gesamtkunstwerke: poetisch, satirisch, witzig, skurril - aber trotzdem Rock ´n Roll. Siehst Du sich selbst als Künstler? Gar als intellektuellen Künstler?


a. Du bringst das völlig auf den Punkt - HONIGDIEB-Konzerte sind energievolle Gesamtkunstwerke.


b. Ich würde mich eher als Bordsteinpoet bezeichnen mit einer stark ausgeprägten instinktiven Intelligenz. Ansonsten bin ich Künstler, Komponist, Texter, Sänger, Tänzer, Produzent und
Manager in einer Person.


Deine Konzerte ziehen völlig unterschiedliches Publikum an. Alle möglichen Menschen jeden Alters sind vertreten, von Punks über Gruftis bis zu Death Metallern, aber es kommen auch viele, die sich - zumindest äußerlich - an keine bestimmte Musikrichtung binden. Wie erklärst Du Dir diese anscheinend universelle Anziehungskraft Deiner Shows?


Universelle Anziehungskraft könnte man das schon nennen. Die Leute die zu meinen bzw. unseren Konzerten kommen spüren, dass dabei unglaublich viel Energie, Phantasie und Lebensfreude versprüht wird. Diese Energie oder dieses Hochgefühl tanken sie dann für ihr eigenes Leben auf. Es ist schon eine Art Medizin, wenn man von der HONIGDIEB-Magie hascht.


Wer noch keine Deiner Shows gesehen hat und Deine ziemlich ungewöhnliche Musik losgelöst davon hört, findet vermutlich nur schwer Zugang dazu. Glaubst Du, dass Du auch alleine über Deine Platten Zuhörer erreichen kannst?


Letztens, als ich mir beim Bäcker Brötchen gekauft habe, fragte mich singend die Verkäuferin: Wann machen wir mal wieder Telefonsex - sie hätte den Song letztens im Radio gehört und seit dem nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Diese Erfahrung haben mir schon etliche Menschen mitgeteilt, die Lieder vom HONIGDIEB gehört haben. Aber das ist kein Zufall, da fast in jedem Song ein versteckter Ohrwurm oder eine bleibende Textphrase steckt. Daher ist es Fakt, dass alleine die Musik die Hörer greift und fasziniert.


Dein neues Album "Einzig, Aber Nicht Artig" vereint wieder die unterschiedlichsten und scheinbar unvereinbare Musikstile, wie Chanson, Pop, Punkrock und Polka. Woher nimmst Du Deine Ideen für diesen abgefahrenen Sound?


Na ja, irgendwie war ich der Zeit schon immer ein wenig voraus. Mit den IDIOTS formierte ich eine der ersten Punkbands und hatte da auch schon musikalische Ausflüge auf der ersten LP (einen Rap-Part bei "Mädchen Mit Den Roten Haar’n" - zu Zeiten, als es noch keine deutschsprachigen Rap-Bands wie FANTA 4 oder so gab. Außerdem war ich auch Vorreiter mit dem extrem rollenden "R", das wendete ich auch schon in den 70ern an. Später mit den PHANTOMS OF FUTURE spielte ich Crossover, bevor überhaupt der Begriff erfunden wurde. Von meiner abwechslungsreichen Bühnenpräsenz mal abgesehen, möchte ich behaupten, dass von meinen über 1000 Auftritten keiner war, wie der andere, und es gibt Fans, die schon über 200 Auftritte von mir gesehen haben und dies bestätigen.


Nun, ich kann meinen Ideenreichtum nur so erklären: In meinen Adern steckt Erfinderblut, mein Urgroßvater war ein Erfinder und hat z. B. das Waschbrett erfunden. Dazu lebe ich am Kern der Zeit, bin immer offen für neuartige Dinge und schrecke auch vor Extremen nicht zurück. Ich sprang kopfüber wie ein Löwe durch Feuerreifen ins Publikum und trat mit brennenden Händen auf, zu Zeiten, in denen RAMMSTEIN noch lange nicht existierten. Bei den IDIOTS flogen Schweineköpfe bei dem Song "EDEKA" - ein deutscher Esel kauft alles - ins Publikum. Textlich habe ich in den Achtzigern auch in der Metal-Szene Impulse gesetzt... Es gibt für mich keine musikalischen Grenzen und ich bin auch im alltäglichen Leben ein sehr offener Mensch, der immer auf der Suche ist, Neues zu erfahren oder zu erlernen, vor allem selber zu kreieren und auszuprobieren. Reisen ist eines meiner größten Hobbys und dabei stoße ich immer wieder auf neue Abenteuer und Kulturen, welche meinen Horizont erweitern.


Ich suche mir aus jeder Musikrichtung die Rosinen aus. Für mich ist es wichtig, dass Musik ein eigenes "Ich" besitzt und nicht die tausendste Kopie von irgendwelchen Originalen ist. Daher haben die Songs eine sehr große musikalische Bandbreite. Alles ist möglich - alles ist erlaubt. Musikalisch und textlich bin ich da ein absoluter Anarchist. Da wird alles miteinander schamlos zusammenkomponiert, z. B. Metal mit Volksmusik.


In der Regel versucht man ja, mit dem zweiten Album noch einen draufzusetzen. Wie schafft man es, sich nach einem eh schon ziemlich durchgeknallten Debüt wie "Sei Wie Du Bist" noch zu steigern bzw. überhaupt wieder neue Ideen zu entwickeln, ohne sich zu wiederholen?


Nun, das geht nur mit sehr harter, selbstkritischer Arbeit. In den letzten Jahren gab es kaum einen Tag, an dem ich weniger als 12, meistens 15, Stunden an der und für die Musik gearbeitet habe. Da muss man schon sehr besessen von seiner Lebensideologie sein. Ich bin sehr froh darüber, dass mir das Universum die göttliche Kraft gibt, immer wieder neue Ideen aus meinem Zylinder zu zaubern. Der HONIGDIEB ist ganz bewusst kein Schubladenthema.


Wie wichtig ist das Kind in Dir für Deine Musik?


Das Kind in mir ist das Wichtigste für mich und den HONIGDIEB. Es hält mich jung, lebendig und macht mich unberechenbar. Es gibt Menschen, die sind schon mit 20 eingestaubt wie andere mit 90. Ich werde immer Kind sein…


War es anfangs schwierig, jemanden zu finden, der sich zugetraut hat, Deine nicht grade alltägliche Musik zu produzieren?


Mit "Sigi Bemm" (TIAMAT, GRIP INC., KREATOR, Udo Lindenberg) habe ich ja einen Altmeister gefunden. Später bei der Produktion stellte ich fest, dass ich der einzige bin, der den HONIGDIEB zu 100% produzieren kann. Daher hat der Sigi nur 4 Songs auf dem ersten Album produziert und anschließend habe ich die Produktion übernommen. Selbstverständlich tragen Sigi’s Erfahrungen, die ich öfter nutzte, sowie seine absolut hochkarätigen Studios zu dem Bombensound auf " EINZIG, ABER NICHT ARTIG" bei.


Dazu muss ich noch meine völlig genialen Musiker loben, die an ihren Instrumenten wirklich
hervorragende Arbeit geleistet haben. Unser Schlagzeuger hat z. B. einen neuen Studiorekord aufgestellt und das Album (alle 14 Songs) ohne einen Fehler in weniger als 4 Stunden eingespielt.
Das hat noch kein anderer Drummer in 25 Jahren Woodhouse Geschichte geschafft (und dort waren eigentlich fast alle großen Drummer, z. B. Dave Lombardo usw.). Ganz wichtig ist noch, es sind absolut keine Keyboard-Sounds auf dem Album, alles ist per Hand eingespielt. So macht unser Zaubergeiger z. B. beim Hawaii-Intro von "Pornostar" mit seiner Geige Meeresrauschen, Möwen und ein Nebelhorn eines Dampfers… An den anderen Instrumenten sind ebenfalls exzellente Musiker am Start - ich habe sie aus über 30 Musikern ausgesucht und ich denke, sie sind zur Zeit die Besten aus dem Ruhrgebiet, die ich für den HONIGDIEB gewinnen konnte.


Musikalisch ist es ein großer Sprung von den PHANTOMS OF FUTURE zu HONIGDIEB. Was war der Grund für diese Richtungsänderung? Hattest Du ganz einfach Lust auf etwas Anderes? Oder gab es bestimmte Einflüsse, die Dich dazu bewegt haben?


Der HONIGDIEB ist der Eulenspiegel/ Robin Hood in der Computerzeit. Um schelmisch gegen unsere Ellenbogengesellschaft zu agieren, benötigte ich ein neues Kleid (Musikalisch sowie textlich). Mir war bei den PHANTOMS aufgefallen, dass viele gar kein Englisch verstehen. Daher habe ich auf meine Muttersprache zurück gegriffen.


Deine ursprünglichen Vorbilder waren Bands wie die SEX PISTOLS, die STRANGLERS und natürlich Iggy Pop, nach dessen Album "The Idiot" Du Deine Band THE IDIOTS und auch Deine Plattengeschäft Idiots Records benanntest. Wer sind heute Deine Idole?


Menschen, die sich trotz einer Behinderung nicht aufgeben und ihr Leben meistern. Sie sind für mich die wahren Helden. Überhaupt Menschen, die Charisma besitzen; die nicht wegschauen, wenn andere zu unrecht diskriminiert werden, erhalten von mir große Sympathie.


Du hast Jahre lang auf der Straße gelebt, viele Deiner alten Freunde leben heute nicht mehr. Wie hast Du die Wende geschafft?


Als ich vom Dach der Dortmunder Nordstadt springen wollte, erlebte ich mein Leben noch mal im Schnelldurchlauf - es lief vor meinen Augen ab - dann kam ein Geistesblitz und ich habe die Sonne in mir gespürt und habe mich für das Leben entschieden (Dabei ist der Text für "Sun" von den PHANTOMS entstanden. Der läuft immer noch in allen Alternative-Schuppen, die Leute fühlen richtig, dass es da um Leben und Tod geht.). Ab dem Tag war Schluss mit No Future.


Du bist sozial und kulturell sehr engagiert, unterstützt Benefizkonzerte für Obdachlose und bietest jungen Bands in Deinem Café "Banane" in Dortmund die Möglichkeit zu Auftritten. 1996 hat Dir die Stadt Dortmund sogar eine Auszeichnung für kulturelle Verdienste verliehen. Rührt Dein Engagement daher, dass Du nie den Bezug zu den Menschen verloren hast, denen es heute nicht so gut geht wie Dir?


Im Kindergarten wurden mir schon Boxhandschuhe angezogen und ich habe mich mit denen geprügelt, die Schwächere gehänselt und gequält haben - das ist mein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, für den ich schon mein ganzes Leben unterwegs bin. Daher wurde ich sicher auch einer der ersten Punx, da ich damit auch äußerlich auf Ungerechtigkeiten und Missstände hinweisen konnte. Ich habe Hamburger aus der Mülltonne gegessen und weiß, wie es ist, wenn man auf der Straße fast erfriert, daher versuche ich alles, was in meiner Möglichkeit steht, Menschen und Tieren in Not zu helfen. Es ist ein Verbrechen, dass bei uns in Deutschland im Winter nicht die U-Bahnhöfe für Obdachlose aufgemacht werden und Menschen noch erfrieren müssen!


Wie siehst Du die derzeitige Dortmunder Musikszene? Gibt es da spezielle Entwicklungen und Trends?


Wir haben eine sehr große Musikszene, die in alle Stile geht und es gibt auch einige etablierte Bands,
(wie z.B. Metal - ANGEL DUST, Pop/Rock ’n Roll - Sascha, Hip Hop - TOO STRONG). Leider gibt es nicht sehr viele, die sehr intensive Arbeiten und eigene Ideen entwickeln.


Ist eine Tour in Planung?


Der HONIGDIEB wird 2005 sehr viele Konzerte in ganz Europa spielen. Da unsere CD-Präsentation im Oktober ausverkauft war und die Nachfrage so groß ist, spielen wir am 26.12.04 ein X-Mas Konzert
in der Dortmunder Live Station.


Was für Pläne hast Du für die Zukunft? Was willst Du noch erreichen?


Eine komplette Asientour ist in Planung - mal schauen, ob es nächstes Jahr schon klappt. Dann arbeite ich schon am dritten HONIGDIEB-Album; ein Buch mit CD und DVD von den IDIOTS
will ich noch veröffentlichen, außerdem eine DVD von den PHANTOMS OF FUTURE… Der Tag hat leider nur 24 Stunden…

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