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NEUES VON PUNK-URGESTEIN TOM SCHWOLL AKA. FLEUR DE MALHEUR

Jeder Musikhörer, der eine Spur von Punk-Sozialisation in sich trägt, hat TOM SCHWOLL bereits Gitarre spielen hören. Der gebürtige Berliner ist - der Begriff ist etwas abgekaut, aber hier trifft er einfach - ein URGESTEIN der Punkszene in der Hauptstadt. Ob mit seinen frühen Bands wie ZERSTÖRTE JUGEND und MANSON YOUTH, für die er damals sogar die Schule abbrach, über seine Zeit als Gründungsmitglied von JINGO DE LUNCH und als Teilzeit-Gitarrist bei EXTRABREIT, weiter über die rund 25 Jahre als kompositorische Triebfeder bei DIE SKEPTIKER - bis hin zu seiner aktuellen Punkband ES WAR MORD: Tom Schwoll ist eine impulsgebende Figur im (meist) deutschsprachigen Punk, seit jener damals in Berlin mit brachialer Kraft einschlug.

Betrachtet man Schwolls musikalische Vergangenheit, so besitzt sein erstes Soloprojekt FLEUR DE MALHEUR eine zunächst überraschende stilistische Ausprägung. Die Musik darauf ist - im weiteren Sinne - eine amerikanisch geprägte Singer-/Songwriter-Schule, versehen mit einem dunklen Twist. Ein COUNTRY mit Ecken, Kanten und manchmal auch einem betont süßen Schlenker. Ein mit Tradition aufgeladener INDIE- und FOLKSOUND, der zwischen leichtfüßig und schwermütig hin und her wechselt, als sei es das Leichteste auf der Welt. „Ich habe als Kind angefangen mit einer akustischen Gitarre“, erzählt Tom über den Ursprung - sowohl seinen als Musiker als auch jenen des vorliegenden Albums. „Da war ich sieben Jahre alt und habe ‚Hang Down Your Head Tom Dooley“ im Radio gehört. Das war das erste Lied, das ich auf der Gitarre gelernt habe. In dieser Tradition habe ich dann ein paar Jahre Gitarre gespielt und dazu gesungen, bevor ich den Rock’n’Roll für mich entdeckt habe: Hannes Wader, Joan Baez, BOB DYLAN und solche Sachen. Mit 13 kam dann CHUCK BERRY, eine E-Gitarre und ein Plektrum, und ab da habe ich das Plektrum nie wieder weggelegt. Über eine Band von Alex Hacke, bei der ich auf einem Album mitgewirkt habe, fand ich dann sehr viel später wieder zurück zum Country. So merkte ich etwa, wie sehr mich die Musik von HANK WILLIAMS berührt.“


Die Idee von Fleur de Malheur war für Schwoll aber nun nicht, seine ganz eigene Version von US-Country zu formulieren, also einfach etwas zu adaptieren und im Geiste eines bestimmten Genres zu arbeiten. „Das Projekt hat sich verselbstständigt, ich habe nicht groß nachgedacht, sondern einfach losgelegt“, beschreibt er, „und bei jedem Song einfach so lange rumprobiert, bis ich etwas hatte, mit dem ich zufrieden bin.“ Im Ergebnis wirken die Songs gleichzeitig unbehauen, aber zu Ende gedacht. Minimalistisch, aber ausgereift. Sehr nah an ihm und trotzdem raumgreifend. Einnehmend, aber in Momenten auch bewusst brüskierend. Das Finden dieser Balance: Ein Prozess, der sich über drei Jahre hinzog. Die ursprüngliche Idee dazu kam ihm, als er für ein Jahr lang in einem Berliner Varieté-Theater gespielt hat - er machte gewissermaßen das Vorprogramm für die eigentliche Aufführung, „und ich musste mir jeden Abend überlegen, womit ich das Publikum für 45 Minuten unterhalten möchte. Und wenn man da so ganz alleine auf der Bühne sitzt mit einer Gitarre, dann landet man fast automatisch irgendwann bei so einem klassischen Country-Sound.“ Zumal für ihn bei Fleur de Malheur ein Ansatz im Mittelpunkt steht, der so auch für traditionelle „gute Lied“ gilt: Jeder Song sollte, ja muss auch funktionieren, wenn er nur aus einer Gitarre und einer Stimme besteht. „Was nicht bedeutet, dass man in einer Aufnahmesituation nicht trotzdem schaut, was für ein Instrumentarium einem bestimmten Song noch gut tun könnte. Aber die Idee, dass man auch mit dem minimalsten Besteck einen Song zum Leben erwecken kann, schwingt bei allen Kompositionen mit“.


Alles weitere kam dann peu à peu zusammen - vieles davon aber zunächst im Kopf und Bauch von Tom, rudernd in einem Kajak. „Ich hab’ nen Garten etwas außerhalb Berlins, der direkt an einem See liegt, und ich gehe gerne und lange paddeln“, berichtet er. „Bei diesen Ausflügen habe ich fast immer eine Gitarre
dabei und probiere in den Paddel-Pausen dann viel herum.“ So entstanden nicht nur die vorliegenden Kompositionen, sondern auch viele der Texte. Texte, die mit dem Hörer etwas machen - sei es nun ein schönes, warmes oder auch mal ein dunkles, bedrohliches Gefühl. Texte, die bewusst auf Deutsch gesungen sind, damit man sich auf direktem Weg mit ihnen auseinandersetzen kann. Und Texte, die von einer Stimme gesungen werden, von der es angesichts ihrer hohen Qualität und eindrücklichen Stimmlage rückblickend schade ist, dass Tom so lange brauchte, um ihr Gehör zu verleihen. „Ich bin ständig auf der Suche nach Wörtern und versuche, Worte zusammen zu setzen, bis da etwas steht, hinter  dem ich stehen kann. Schön finde ich auch, wenn man in Texten hier und da immer mal wieder eine Überraschung findet. Einen Twist, mit dem man nicht rechnet und der dem Thema des Songs noch mal eine andere Perspektive oder Idee verleiht.“


Ein gelungenes Beispiel dafür ist etwa „Prieros“: Hört man den Song mit Textzeilen wie „Und die Schiffe fahren vorbei / manchmal legen sie an / vor der Kirche in Prieros“, denkt man an ein hübsches Dorf im gleißenden Sonnenlicht, vielleicht in Griechenland oder auf Zypern. Tatsächlich aber befindet sich Prieros südlich von Berlin, an der Dahme - eine dieser Gegenden, die Tom während der Entstehung des Albums abgepaddelt hat. Besonders an diesem Ort ist, dass es einer der wenigen in der Region ist, der noch einen Supermarkt besitzt, der vom Wasser aus fußläufig erreichbar ist - für Tom auf seinen Paddel-Trips ein nicht unerheblicher Vorteil. Und schon wird aus einem Bild, das vermeintlich die Erinnerungen an einen wunderbaren Sommerurlaub herauf beschwört, zwischen den Zeilen eine kritische Betrachtung von Zerfall, Reichtum, Stadtflucht und damit ja, auch Konsumkritik. Wie auch die weiteren Zeilen erläutern: „An einem heißen Tag / vor der Kirche in Prieros / sind die Fenster im Parterre / zubetoniert (…) die Ketten rasseln leise weiter / kleine Fische saufen Blei / irgendwo in Prieros“.


Generell beschreibt Tom Schwoll in seinen Songs Gegenden und Begegnungen, Situationen und Snapshots, Momente und - ja, auch das - persönliche Malheure, grundiert mit einer immer dezent durchscheinenden Melancholie. Auf der anderen Seite möchte er aber auch Position beziehen, Haltung zeigen und Dinge benennen, die ihn bewegen. So kommt es auch zu „Oury Jalloh“, einem Song über den 2005 in einer Zelle des Dessauer Polizeipräsidiums verbrannten Afrikaners, dessen Todesursache bis heute ungeklärt ist. „Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich in meiner privilegierten Situation als weißer Mann mit einem deutschen Pass einen solchen Song überhaupt veröffentlichen sollte“, gibt er zu. „Doch das Feedback auf das Lied sowie auch meine eindeutige Haltung dazu haben mich davon überzeugt, dass ich das machen sollte. Vielleicht im Sinne von Brecht, der mal schrieb, dass der Pass ohne Mensch mehr wert ist als der Mensch ohne Pass. Ich finde es unerträglich, dass sich über diesen Vorgang bis heute ein diffuser Nebel von nicht deutlich ausgesprochener Polizeigewalt gesetzt hat, der eine Aufklärung des Falls, bei dem es sich ganz offensichtlich zumindest um Totschlag handelt, geradezu unmöglich macht.“ Und doch - und obschon Tom ein sehr politischer Mensch ist - ist die Idee von Fleur de Malheur nicht darin zu finden, ein unmissverständliches politisches Pamphlet zu sein. „Es geht mir vielmehr um Gefühlslagen und darum, Stimmungen zu erzeugen. Ich bin im Kern ein positiver Mensch, und diese Zuversicht und auch Fröhlichkeit soll gern auch durch die Songs scheinen, selbst jene, die in ihrer Ausgestaltung tendenziell etwas Düsteres verströmen. Bis hin zu Momenten von leichtem Kitsch, denn ich mag kitschige Akzente. Wenn man in den Zwischenzeilen eine politische Haltung entdeckt, ist mir das aber auch sehr recht“, sagt er.


Auch mit dieser Haltung steht Tom Schwoll durchaus in der Tradition amerikanischer Country-Musik: Kritik an Gesellschaft, Konsum und zersetzenden Machtstrukturen? Ja, immer. Politischer Aktivismus mit wütend erhobener Faust? Ja klar, musikalisch in seiner Punkband Es war Mord, mit der Faust um den Gitarrenhals. Und natürlich mag er die Goldenen Zitronen oder Woody Guthrie. Doch dem Hörer soll nicht einfach etwas vorgesetzt werden, das er entweder akzeptiert oder ablehnt - er darf und soll ins Nachdenken kommen, ins Reflektieren, auch in das eigene Fühlen von Ungerechtigkeiten und weit verbreitetem Pessimismus. Und auch auf zwei anderen (Meta-)Ebenen ist dieses Album tief im Geiste des Country verwurzelt: Zum einen ist es ein Werk über das Unterwegssein - Aufnahmen zu diesem Album entstanden in Dänemark, Belgien, Weimar, Werder und in verschiedenen Studios und Orten in Berlin. On the road, on the fly, ganz wie ein Troubadour, der seine Songs über die Welt in dieser Welt kreiert, an jedem Ort, der sich dazu eignet. Zum anderen spiegelt die Platte ein Grundgefühl und einen Wertekanon wider, die auch vielen der großen Legenden des Country zueigen sind. Nämlich: „Ich war und bin nie darum bemüht, zu gefallen. Ich mache das, was sich für mich ganz alleine richtig und gut anfühlt. Wenn es anderen auch gefällt: umso besser. Aber es war nie mein Antrieb, als Musiker irgendetwas ‚zu bedienen‘. Ich möchte lieber machen, machen und schauen, was dabei am Ende herauskommt.“


Mit FLEUR DE MALHEUR ist aus TOM SCHWOLL etwas herausgekommen, was gerade in seiner Zerrissenheit für uns von großem bleibendem Wert sein könnte. Man muss sich nur darauf einlassen.

 

 





Quelle: Fleur De Malheur