Festival:

M´era Luna 2018 - Samstag

Festival vom 11.08.2018

Jedes Jahr pünktlich zum zweiten August-Wochenende ziehen dunkle Schatten über dem niedersächsischen Hildesheim auf: das beschauliche Örtchen mit seinem von einem heiligen Rosenstock gezierten Dom wird zum Mekka der Schwarzen Szene, denn das M´era Luna steht an und verwandelt den sonst eher schnöden Flugplatz in ein wogendes schwarzes Meer. Nachdem letztes Jahr die Schatten ein wenig gar zu dunkel und in der wenig erwünschten meteorologischen Form dicker Regenwolken angerückt waren und das Festival zum Leidwesen aller Beteiligten in eine einzige gewaltige Schlammschlacht verwandelt hatten, belohnte Petrus dieses Jahr den trotzigen Durchhaltewillen der Festivalgänger und schickte nicht nur Sonnenschein, sondern sorgte gnädigerweise dafür, dass sowohl die kurz zuvor noch herrschende Affenhitze von über 35 Grad, die  auf einem komplett baumlosen Gelände wirklich kein Spaß gewesen wäre, als auch die diese beendenden Gewitter rechtzeitig Platz machten für bestes Festivalwetter. Zwar war der Boden durch die vorangegangene Hitzewelle so dermaßen beinhart, dass der eine oder andere sich beim Zeltaufbau ein zähes Ringen mit den Heringen liefern musste, um sein Dach über dem Kopf ausreichend gegen den böigen Wind zu befestigen, doch das hielt niemanden ernstlich auf und so füllte sich der bereits aber Freitagmorgen geöffnete Campingplatz rasch. Kein Wunder, schließlich hatten die Veranstalter schon am Freitagabend für Programm gesorgt: im Hangar standen die Lesungen von Markus Heitz, David Grashoff und Christian von Aster an, der Mittelaltermarkt öffnete schon am Nachmittag seine Pforten, am Abend folgte das Festivalgelände, um einen ersten Shoppingbummel zu ermöglichen und wer wollte, konnte seinem Festival-Erscheinungsbild in der M´era Luna-Academy mit einem neuen Make Up oder einer neuen Haarfarbe den letzten Schliff geben. Anschließend lud die Disco dazu ein, sich schon mal musikalisch einzugrooven.

 

Wer es dabei ein wenig übertrieben hatte, konnte am Samstagmorgen denn auch getrost erst einmal im Zelt liegen bleiben, ein paar Regentröpfchen sandte der Wettergott dann nämlich doch – wohl sicherheitshalber, um die Brandgefahr durch die Campingkocher zu minimieren. Der frische Wind jedoch vertrieb die Regenwolken pünktlich zur Öffnung des Veranstaltungsgeländes und nötigte überdies manchen Festivalbesucher mit aufwendigerem Kopfputz, diesen besser zu befestigen als ursprünglich vorgesehen. Um 11 Uhr fiel der Startschuss zum musikalischem Programm auf der Main Stage: CYBORG, Gewinner des M´era Luna Newcomer-Wettbewerbs, machten den Anfang und sorgten mir harten Klängen dafür, dass auch die letzten Langschläfer aus den Federn bzw. dem Schlafsack fielen. Wer schnell genug gewesen war und einen Platz in den zu Festivalbeginn bereits ausgebuchten Make Up-Workshops am Morgen ergattert hatte, saß zu diesem Zeitpunkt bereits in der Maske und nutzte die Chance, sich unter professioneller Anleitung für den Rest des Tages angemessen aufzubrezeln. Im Hangar weihten WHISPERING SONS die Bühnenbretter ein. Wer über das Gelände wandelte, konnte an verschiedenen Stellen Neuerungen entdecken: da war zum einen an prominenter Stelle die M´era Luna- Geisterbahn, die sich im Laufe des Wochenendes derartiger Beliebtheit erfreute, dass ihre Bewohner aus dem Erschrecken grusel-williger Besucher gar nicht mehr herauskamen, zum anderen aber auch weniger spektakuläre, dafür aber umso erfreulichere, weil praktische Dinge wie die Biergartenflair- Beleuchtung in einigen Bereichen des Campingareals. Der orangene Orientierungsturm hingegen schien bereits um die Mittagszeit herum selbst ein wenig die Orientierung verloren zu haben, da er durch den starken Wind in beträchtliche Schräglage mit Tendenz nach unten geraten war (der einschlägigen Campingplatz-Beschilderung nach zu urteilen wollte er wohl – passend zur ideologischen Ausrichtung des einen oder anderen Bewohners – eher in die Hölle als in den Himmel. Wie heißt es doch so schön: „Wie der Herr, so´s Gescherr“). Sehr hoch im Kurs stand hinsichtlich der individuellen Lagerplatzmarkierung diesmal ein für M´era Luna-Verhältnisse erstaunlich buntes Fabelwesen: das Campinggelände war von einer ganzen Herde Einhörner bevölkert, die – in fröhlichen Pastellfarben – auf Flaggen im Wind flatterten, oder als aufblasbare Schwimmtiere unterschiedlichster Größen die Pavillons flankierten.

Unterdessen ging es auf der Main Stage weiter mit Gothic Metal von MERCIFUL NUNS, deren Ähnlichkeit mit den SISTERS OF MERCY nicht nur in der Namensbedeutung offenkundig wurde, sondern auch in ihren düster-schweren Klängen. Ein wenig flotter, wenngleich selbstverständlich nach wie vor angedunkelt ging es im Anschluss bei ZERAPHINE zu, die mit düsterrockigen Klängen und Songs wie „Lieber Allein“, „Die Macht In Mir“ und „Be My Rain“ das Dark Rock-Herz erfreuten. Da schadete es auch nicht, dass „Kaltes Herz“ laut Aussagen von Frontman Sven Friedrich vermutlich nicht besonders festivalkompatibel, da zu ruhig sei: „Egal, wir spielen es trotzdem!“. Freunde härterer Klänge hingegen zog gegen 14:20 Uhr in den Hangar, wo mit RABIA SORDA das Soloprojekt des HOCICO-Sängers Erk Aicrag (am kommenden Tag auch mit HOCICO am Start) aufspielte und die Halle zum Beben brachte. Auf der Main Stage hingegen stand der erste Ausflug ins Mittelalter an: Tanzwut machten sich bereit, um 14:45 Uhr mit der ihnen eigenen Mischung aus Mittelalterrock und elektronischeren Elementen die Bühne zu entern. Los ging es mit Beethovens „Götterfunken“ als Intro, das nahtlos in „Schreib Es mit Blut“ überging. Als Auftakt zur „Das Gerücht" musste die Bildzeitung herhalten, deren Urheber mutmaßlich der Teufel sein müsse, wobei offenblieb, ob Sänger Teufel damit den Leibhaftigen oder sich selbst meinte. Seine eigene geistige Klarheit stand dabei natürlich außer Frage, wie er als Überleitung zu „Reiter Ohne Kopf" kund tat, dessen Text auf eine Geschichte zurück gehe, die dem damals noch kleinen Teufel von seinem Großvater erzählt worden sei. Sehr zum Leidwesen seiner Großmutter, die ihren Gatten gerügt habe, er solle dem Jungen nicht immer solche Geschichten erzählen, der würde sonst noch wahnsinnig – „Aber-“, so der Sänger breit grinsend: „Das ist natürlich nicht passiert!". Dass man es auch als mutmaßlich geistig gesunder Spielmann nicht immer leicht hat, beklagte die Band vor „Geteert Und Gefedert": „Immer sind wir unterwegs und sollen Musik machen, und dann kommt irgendwann die Nacht und dann will man uns loswerden. Einmal waren wir in einer Stadt, da hat man uns zu diesem Zwecke doch tatsächlich... geteert und gefedert!". Das M´era Luna-Publikum jedenfalls hegte keine derart bösartigen Absichten, sondern feierte fröhlich mit bis zum letzten Ton.

 Nach kurzer Umbaupause wurde die Bühne an LORD OF THE LOST übergeben, ebenfalls keine Unbekannten auf dem M´era Luna. Die legten mit „On This Rock I Will Build My Church" recht brachial los und arbeiteten sich dann – nach der dem Festival und der Menge vor der Bühne schmeichelnden Aussage „M´era Luna ist wie nach hause kommen!" – durch ein Set, das unter anderem „Dry The Rain", „Six Feet Unterground" und „La Bomba" beinhaltete. Parallel sorgte DAS ICH im Hangar mit ihrem religionskritischen Gesamtkunstwerk für Alternativprogramm.

 

Derweil begannen auf der Main Stage die Umbauarbeiten für The 69 Eyes, bei denen offenkundig einiges schief ging, denn die Finnen konnten ihren Auftritt aufgrund technischer Schwierigkeiten erst mit einer geschlagenen Viertelstunde Verspätung beginnen, wodurch ihr eigentlich auf 45 Minuten ausgelegtes Set ärgerlicherweise auf gerade mal eine halbe Stunde zusammenschrumpfte. Doch so leicht lässt sich ein Helsinki Vampire nicht unterkriegen – schließlich gelang dann doch der Sieg von Mensch über Material und Jyrki 69 und seine Mannen konnten die Bühne betreten. Los ging es zur Freude der Fans mit „Framed In Blood", gefolgt von den ebenso bewährten Bandklassikern „Feel Berlin" und „Gothic Girl". Einen Ausflug in die (zumindest etwas) jüngere musikalische Vergangenheit unternahm die Herren mit „Dead Girls Are Easy", das tatsächlich den neuesten Song in einem weitestgehend aus älteren Klassikern bestehenden Set darstellte. Nicht fehlen durfte natürlich auch „Brandon Lee", wobei Schlagzeuger Jussi 69 diesmal auf seine sonst etablierte Krähen-Imitation im Zwischenteil verzichtete – ein Umstand, der möglicherweise auch den Differenzen mit der Technik, insbesondere den Mikrofonen, geschuldet war. Das Publikum feierte die Band trotz ihres unglücklich verspäteten Starts, skandierte „Never Say Die" ordentlich mit und den Rausschmeißer und Live-Stimmungsgaranten „Lost Boys" erst recht.

 

Wer dagegen weniger für Stromgitarren und mehr für melodisch-elektronische Klänge übrig hatte, den zog es in den Hangar zu Welle:Erdball, um Tracks wie „Ich Bin Aus Plastik“ und „VW Käfer“ zu lauschen. Modeverrückte wiederum strömten zum zweiten Durchgang der Gothic Fashion Show: zum Sehen und Gesehen werden, und vielleicht auch, um noch zusätzliche Inspiration für einen späteren Kaufrausch zu bekommen – das M´era Luna bot diesbezüglich weiß Gott genug Auswahl und welches andere Festival kann schließlich schon eine eigene Modenschau für sich in Anspruch nehmen?

 

Wer kein Interesse an der Parade ausgefallener Outfits hatte (oder auch einfach schlicht pleite war und sich lieber gar nicht erst nicht in Versuchung führen lassen wollte), nahm hingegen langsam an der Main Stage Aufstellung, wo sich ein weiterer M´era Luna-Veteran bereit machte: APOPTYGMA BERZERK waren an der Reihe und bezirzten ihr Publikum mit Songs wie „Love Never Dies“, „Kathy´s Song“ und „Until The End Of The World“. Die Norweger wurden dankbar aufgenommen, auf der von Farbe und Staubigkeit her leicht an die Sahelzone erinnernden Wiese vor der Bühne herrschte entspannte bis ausgelassene Picknickstimmung. So manch einer nutzte die Gelegenheit auch zum Kräftesammeln, denn danach war es mit der Gemütlichkeit erst einmal vorbei: MINISTRY standen vor den (Bühnen-)Toren, und die wollten keine Gefangenen machen. In brachialer Laustärke zelebrierte die Band eine politisch geprägte Abrissparty, untermalt von die Texte unterstreichenden Videos auf der Leinwand und flankiert von zwei übergroßen weißen Hühnern am Bühnenrand, deren goldene Haarschöpfe wohl nicht ganz zufällig verdächtig an die Tolle von US-Präsident Donald Trump erinnerten. „Punch In The Face“, „Antifa“, „Just One Fix“ oder „So What“ – ein Song nach dem anderen hielt den Laustärkeregler am Maximum und das Publikum ordentlich auf Touren für den später anstehenden, zweiten großen Abriss des Tages, zelebriert von den Kollegen von THE PRODIGY.

 

Bevor diese jedoch an der Reihe waren, war noch einmal musikalisches Kontrastprogramm angesagt und die Herren von IN EXTREMO übernahmen, umrahmt von Pyrotechnik, das Ruder. Die Spielleute drückten mit „Quid Pro Quo“ und „Feuertaufe“ direkt aufs Gas, bevor der stimmungsvolle Bandklassiker „Vollmond“ folgte. „Störtebecker“ vom letzten Album, „Mein Rasend Herz“, einer DER IN EXTREMO-Klassiker schlechthin, und die Live-Hymne „Frei Zu Sein“ durften selbstverständlich auch nicht fehlen. Bei „Sängerkrieg“ wurde das Publikum um laustarke Mithilfe gebeten und „Rotes Haar“ wandelte Das Letzte Einhorn kurzerhand charmant dergestalt ab, dass aus „Ich hab mich in dein rotes Haar verliebt“ „Ich hab mich in das M ´era Luna-Festival verliebt“ wurde. Das Publikum dankte es mit reichlich Jubel und entließ die Band nach „Pikse Palve“ nur äußerst ungerne in den Feierabend – das musikalische (und pyrotechnische) Feuerwerk hätte ruhig noch weitergehen dürfen, zumal mit „Herr Mannelig“, „Liam“ und „Ave Maria“ durchaus noch der eine oder andere Klassiker fehlte. Doch ein eng getaktetes Festivalprogramm kennt kein Pardon: für Zugaben war keine Zeit, denn die Bühne musste für die Headliner des Abends, THE PRODIGY, bereitgemacht werden.

 

Unterdessen spielte im Hangar mit LONDON AFTER MIDNIGHT eine Institution des Gothic Rock auf. Auch hier schien Donald Trump, an diesem Tag offenbar erklärte Persona non grata, nicht besonders hoch im Kurs zu stehen, wurde ihm doch die fragwürdige Ehre zuteil, gleich mehrere Songs entweder gewidmet zu bekommen („Revenge“, bebildert durch ein Video mit „Sieg Heil!“-Rufen und durchgestrichenen Hakenkreuzen) oder Teil der (wenig schmeichelhaften) Videountermalung zu sein („America“). Im Laufe des Auftritts war ein zunehmender Zuschauerschwund zu bemerken, da es immer mehr Besucher magisch in Richtung Main Stage zog, um sich dort in Stellung für THE PRODIGY zu bringen. Dass der Hangar sich nicht völlig leerte, sprach für die Darbietung von LONDON AFTER MIDNIGHT und die Band – sich der enormen Konkurrenz durchaus bewusst—honorierte es zum Ende ihres Sets hin mit deutlichen Worten: „Thank you so much for staying with us while the fucking PRODIGY are playing outside!“

 

Wer den Hangar danach verließ, lief gegen eine mehr als solide Soundwand und meinte, fast zu erblinden, sobald er den Blick in Richtung Main Stage wandte, denn THE PRODIGY entfesselten dort in jeglicher Hinsicht ein wahres Gewitter. Wohl dem, der über Ohrstöpsel verfügte oder ohnehin nicht zu sehr an seinem Gehör hing. Frontmann Keith Flint legte zwar eine Ausdrucksweise an den Tag, dass von seinen Worten im Falle einer Zensur vor lauter „BEEP!“ nicht mehr viel übrig geblieben wäre (heißt es nicht eigentlich immer, die Briten wären höflich?), brachte die Menge aber mühelos zum Kochen und Songs wie „The Day Is My Enemy“, „Omen“, „Need Some 1“ und – natürlich – „Smack My Bitch Up – taten das Übrige. Da war die Aufforderung zum Circle Pit vor der Zugabe nur konsequent und der Titel des finalen Rausschmeißers „Take Me To The Hospital“ möglicherweise auch für manchen Programm. Nach Ende des Soundgewitters wankte die eine Zuschauerhälfte ermattet in ihre Zelte, die andere, die noch über ausreichend Restenergie verfügte, entweder in die Disco oder zum Mittelaltermarkt, um sich dort endgültig zu verausgaben.



Susannah Kannen Apoptygma Berzerk Ministry In Extremo The Prodigy Apoptygma Berzerk Lord Of The Lost Tanzwut London After Midnight